TERPLAN. DRITTER TEIL
Das
Nebenbei, das Unwichtige haftet. Was sonst war, Krieg, Soldaten, die nach
Zigaretten rochen, und hatten gelbe Finger, auch Vater, kam als solche
Botschaft an, vertraut, denn da dachte
ich noch nicht, so konnte sich schöne Erinnerung bilden. Und was erhoffst du
dir, daß Schreiben nicht mehr nur Verlorenes, Wirklichkeit überhaupt ersetzen
muß. Wolltest in S. ein Schriftstellerhaus gründen, alter Träumer.
Besuch
bei den jetzigen Besitzern, zu Fuß durch die Cornesti, nein zuerst über den
"Neuen Weg", da sah man schon die beiden bekannten Ausblicke,
Steilau, die Sommerhäuser klebten am Berg, vertraut, wir gingen am Kinderspital
vorbei, ja, sagte ich, hier konnte man abkürzen früher, bei der Orendt-Neni,
da stieg man in einem Zaunbereich über ein längsgestrecktes Brett, an beiden
Seiten über zwei Pfähle gelegt, eine Brücke sozusagen von Grundstück zu
Grundstück, keine Metapher, da stieg man, auch Großvater, wenn er aus der Stadt
durch die Hüllgasse kam, es war näher, Abkürzung, da stieg er über dieses Brett. Jetzt gibt es
dieses Brett sicher nicht mehr, wer weiß, wer jetzt da wohnt, und wir gingen
lieber am Fielkischen Schlößchen vorbei,
- alles steht noch, hier fielen
ja keine Bomben, ein Dorf, sagt Jann, so ländlich, - gingen wir am alten Brunnen vorbei, diese
metallenen Säulen, wie Wasserzapfsäulen, Hebel, das Wasser zischt in dickem
Strahl hervor, da tranken wir, da füllten wir die weißen Flaschen, denn Wasser
gabs im "Baumgartenhaus" nicht, nur Regenwasser in der Zisterne,
Kochwasser holte der Zigeuner Puscas von der "Lehmkeule", der
Ziganie, mit einem Eselchen das vor die
"Tinne" gespannt war. Wasserleitungen gabs noch nicht, und der Brunnen
am Schleifengraben, den Großvater graben ließ, hatte kein trinkbares Wasser, es
war zu weich. Immer wieder wurden weiße Flaschen an einem Faden da
hinabgelassen, um das Wasser zu probieren, er trank es mit Todesverachtung,
wollte erfolgreich sein. Ja, diese Brunnenhäuschen mit Dach und Gitter, sogar
ein versperrtes Türchen, damit da niemand Dreck reinschmeißt, reinspuckt gar,
die Purligaren, ein Rad, eine Kette mit Eimer gabs auch, das quietschte. Und
es roch nach Farn und nach dem dicken, haarigen Blatt, haarig, fein wie das Ohr junger Hunde, "Balsterblädder",
sagte Mama. Und nach Schrot roch es an diesen Ohren im Schleifengraben.
Das
Herz schlägt mir höher, wenn ich an den "Drachen" denke, an sein
Dreieck, es blieb mir, Gottes Auge und der behaarte Ausgang zur Welt. Mein
Kinderdrachen aber, wir nannten ihn: Alf, zusammengeklebt aus Packpapier, in
der Schnittwarenhandlung meines Großvaters, mit Kleister aus den Resten und
Stützen für Stoffballen, kleinen Leitern aus Hölzchen zusamengeklebt, die
Schnur war lang im Frühling, der Himmel hoch mit Vögeln, doch alles war für
immer schon vergangen, nur wußten wir es nicht. Und später das Denken beim
Abschied und beim Tod: an Weggang/ Abflug/ Aufstieg? Uns gehört der Rest des
Fadens, und daß wir ihn kannten. Der Rest des Fadens/ Drachensteigen. Spiel/
Für große Ebenen ohne Bäume und Wasser. Im Offenen Himmel/ Steigt auf/ Der
Stern aus Papier, unhaltbar/ Ins Licht gerissen, höher, aus allen Augen/ Und
weiter, weiter// Uns gehört der Rest des Fadens, und daß wir dich kannten. Mein
Kinderdrachen, zusammengeklebt, ihn gibt es nicht mehr. Ja, was war gestern,
was geistert durch mein Hirn, fixiere die Spur, die kehrt nie wieder, welch
Reichtum ist das/ Vergessen. Auch das Vergessen freilich der Märchen, der
Phantasiefiguren von damals, der Lindwurm und die Niblungen, Attila, sein Hof nicht weit von Schäßburg, heißt es:
Blut das härtet, und nur ein Lindenblatt fällt, die verletzlichste Stelle: der
Tod."
Ich
höre Vaters Stimme, diese Nähe,
so als löse sich die harte Kontur der anwesenden Dinge auf, als strahle
wieder eine gelbe Wand,
als wären wir wieder im Sommerhaus auf der Steilau, feuchte Wände, Rauch
in der Küche, und er spannt dir einen Bogen, er setzt einen Rohrpfeil ein, oben von der Terrasse schießt
du ihn in den
Schleifengraben, zur Lehmkeule,
oder hoch in den blauen Himmel.
Als wärs ein Erwachen: Und jetzt bist
du wieder dort, für Augenblicke diese Terrasse, das Haus sehn, den Maulbeerbaum, ich schmecke die blauschwarzen
Beeren. Dort gegenüber, dort hinter dem
Maulbeerbaum, und
Seidenraupenspinner, Arachne, sagte
Daniel, der Organist, damals, die Purdis, die Ziganie, nicht alle entkamen den
Transporten, Mariuca nicht, Jani nicht
und Janos nicht, nur Puşcaş entkam
den Todestransporten, Onkel
Andreas mit Rune war dabei, wie durch ein Wunder war Puşcaş
entkommen, der mit dem Eselchen, der in der Tinne das Koch-Wasser
brachte, wenn man ihn rief, über das Tal
hinweg: Puuşcaaas, kein
Trinkwasser, nein, nur zum Kochen das Wasser, mit dem Eselchen, und dann stand die Tinne, faulig roch da das Wasser
unter dem Schopfen. Jetzt aber sind wir oben in einem neuen ,,Reich",
geschafft und sogar gelöscht, was ein Krieg war frei,
alles frei und schön ins Verschwinden. Doch etwas blieb, Etwas
dazwischen, das tickt weiter in mir. Wie fassen wir es, wie fassen wir uns mit
diesen Händen, die sie verbracht ins Gelände,
sie, und das Gras wächst noch immer, auch
auseinandergeschrieben, lies
richtig, lies, auch zurück, lies auch
rückwärts und laß dir die Augen dann übergehen,
alle Augen sind
anders, trocken und wüst. SIEBENBÜRGEN LAND DES SEGENS, Land der Fülle und der Kraft, sang die
Großmutter, das hatte so dunkle Innenräume, der Klang vibrierte, eine
Kindheitsmelodie, ein großes Enigma, weite
Kornfelder, Gold und
Weingärten, Bauern, Hitze. Überlandfahrten.Und dann dieser
,,Meeresboden" einer ,,längstverflossenen Flut" und Todesflut, gehört zum Bodenlosen eines tief tönenden
Gefühls, und zum Mord, Maschinengewehr,
Bombe und Cello am besten,
SS-Gebrüll und das zittrige
Stimmchen der Toten.
Ja,
auch hier überzieht Staub die Disteln und Gräser neben den Reifenspuren?
Kamille und Täschelkraut dünn und ledern? Nein, ich gehe jetzt auf einer
asphaltierten Straße, muß ja auch sein, wie hätten die Autos der Anwohner hier
auf solch einem alten Karrenweg für Ochsenwagen, überall darauf der „Käbesch“,
die pflatschige Kugscheiße fahren
können? Kutschen mit den Großltern, oder der
K.-Großvae, wnen er zu seinen Patienten auf die Dörfer fuhr, wurde doch
mit einem Pferdeleiterwagen abgeholt, hier, genau hier an der „Tornatz“, dem
alten Holzhaus, wo ich jetzt stehe: nein, das gibt es nicht mehr, jetzt ists
ein richtiges, aber verkommenes Haus. Erkenne ich etwas wieder? Hinter dem
Vorschein des Jetzt sind meine Erinnerungen, verdeckt, zubetoniert, in Gefahr
von diesem Schein des Wirklichen ausgelöscht zu werden? Hier der
starkabfallende Abhang zum Bachufer, der bisher mit Akazien bewachsen war,
jetzt ganz kahl wie eine Wpüstenei, und stinkender Schutt und Müll, das ich
mich angeekelt abwende. Kein Mensch. Kein Tier, lautlose Stille. Nur oben,
rechts wo der Gemüsegarten mmit den Paradeis, dem Ägrisch, den Ribisel war,
Tante Friederike emsig schaffte, in anderes furchterregende Betonbau, eine
Garage und zwei weiße gebrauchte BMWs.
Und ging nun den schönn alten Fahrweg hoch, was, halluziniere ich, weiter
Asphalkt, und keine alte Holzbrücke mit alten Rusperbäumen im Blick.
Ich
hatte ja vorsichtshalber schon telefoniert, mich angemeldet. Wurde auch
reinkomplimentiert. Nichts mehr war zu erkennen, nichts. Die schöne alte
Veranda, die viele bunten Glasfenster waren durch eine Mauer ersetzt worden,
zwei Fenster ansttat der Glaswand, von hier hatte man einen wunderbaren Blick
auf die Burg, die Stadt. In zwei kleine Räume war die Veranda abgeteilt worden,
ebenso das Schlafzimmer, komisch, das „Telefon gabs noch, von hier in das
Buben- und Mädchenzimmer in der Masarde,
ein Rohrtelefon, da redete man hinein, und oben konnte man die mahnende
Rede des Großvaters wohl hören. Die Treppe gabs noch, die Zimmer ebenso, die
Verschläge auch. Ich sah mich nahc der alten Sommerküche um, die gab es nicht
mehr, auch da ein Betonraum. Und am betonigsten war die riesige „Werkstatt“
oder Kammer oder Schopfen oder was? Dort hingen Würtse und halbe Schwiene.
Speckseiten. Anstatt des schönnen
Michaeltischen Hohlweges mit der Holzbrücke, alles tzugecshü+ttet, die
Holzbrücke abgerissen und im kalten Winter verfeuert, ebenso die großen
Rusperbäume. Und wo mal der Gemüsegarten Friederikes gewesen war mit der
Tannenhecke, eine riesige Doppelgarage.
Mein
Gott, warum haben ausgerechnet diese bundesdeutsch verseuchten Sachsen das Haus
gekauft, und nicht eine Rumäne, ein Zigeuner oder Ungar, die hätten es mehr
oder weniger verfallen und verkommen lassen, und es wäre alles noch so, wie
damals, restaurierbar. Aber jetzt, wie soll man diese Mauern alle abreiußen,den
Beton sprengen? Nichts mehr war möhglich. Ich trank höflich im ehemaligen
Stiefken, das noch am ehesten dem Großvaters mit den alten
Weltkriegsillustrierten ähnelte, den schlechten Wein, verabschiedete mich, bot
einen extrem niedrigen Preis, und ich würde es mir noch überlegen. Zeigte aber offen meine Enttäuschung.
Als
wäre auch da ein Bombardament gewesen, hätte alles in Schutt und Asche gelegt,
auch den alten Schopfen, den Hof mit den Katzenköpfen, die Tannenhecke, den
Nußbaum auf der Terrasse, den Eichplatz auf der Terrasse, die Nische mit der
Bank. Als ich Jann 1990 das Haus gezeigt
hatte, das Grundstück, wir bis hinauf zum Malerwinkel gegangen waren, und wir
sogar, mehr spaßhalber, unter zwei Aspfelbäumen nach dem sagenhaften Familienschatz,
den Cocosei, den Goldmünzen gegraben hatten, war alles noch wie früher
gewesen. Wie ein Bild dessen, was nach
89 noch alles zerstört werden wird, erschien mir das arme Sommerhaus, in dem
ich keine Nacht hätte schlafen können, zu wund wären meine Erinnerungen da an
den Betonwänden abgeprallt. Nein, unmöglich, dies Haus wollte ich nicht! Und
ich werde das auch Mutter sagen!
.
….
Und wenn du nach Szesbrich fährst, in deine
Kindheitsstadt, wird’s nur Gefühle vergeblicher Erinnerung geben, du schlägst
dich an mit deinen Träumen an ihrem Vergangensein - abgestanden,
liegengeblieben der Schmerz: Ich sehe Vater, er kommt aus der Stadt, er führt
sein grünes Rad an der Hand, riecht nach Tabak, schiebt das Bizzikel, Mächel
darf mit schieben, sie kommen am Lindenbaum vorbei, am Duft. Schwer ist der
Duft. Süßlich. Tee, der die Heiserkeit nimmt. Oma singt. Alle singen.
Schwermütig: am Abend, wenns still ist, die Oma mit ihrem dünnen Stimmchen: Am
Brunnen vor dem Tore singt, zittrig, mit einem wie zerbrochenen Stimmchen,
tremoliert gerührt in einen leichten Wind, der die Äste des Maulbeerbaumes
bewegt. Gut für die Seidenraupen, sagt der Großvater. Seidenraupen, das sind
legendäre Tiere. Da steht ein Lindenbaum. Ich schnitt in seine Rinde, so
manchen süüüßen Traum. singt also mit
heiserem Stimmchen, die S.-Oma, die Mitz-Mother, als wär ihr Stimmchen
angewachsen ans dunkle Wort, als wärs ein Flakon, aus dem ein herber Parfümduft
kommt, aus ihren Schatullen. Der Flakon hat eine gelbe Quaste und steht auf
ihrem alten Spiegeltisch. Sie wollte mich immer moniküren und kömmen, die
Mitz-Mother.
Das
Wetter ist wechselhaft. Zum großen Kränzchen von Mutter kommen alle
Freundinnen. Man spricht darüber, daß Booth Rob Krebs hat; aber er geht
trotzdem einen halben Tag ins Amt. Frau Friedel F. hat ein kleines Mädchen
geboren. Es wird Kaffee getrunken, mit Schlagsahne. Friedel F. erkundigt sich
nach Onkel A., der sich nun auch endlich freiwillig melden muß. Ein feines Bild
von Gerhard in SS-Uniform wird herumgereicht, er ist schon Sturmführer und
sieht schmuck aus. Mutter erzählt von Sles, der eine Karte geschickt hat; Sles
steht an der Grenze zu Bessarabien: Sie heben dort Schützengräben aus und
schlafen in Zelten, marschieren in Regen und Dreck. Wozu?
Im
Herzen versuchten wir, uns einen neuen Himmel aufzubauen, sagte Mutter: einen
schönen deutschen Himmel. Und abends im Bett beteten wir: Läwer Hergottata loß
asen Vother wedder gesangt aus dem Kräch hiemen kun.
Aber
der liebe Gott ist doch längst gestorben, sagte Onkel Daniel. Mächel, der vor
dem Blaupunktfensterchen auf einem Stuhl steht und einen zackigen Marsch
dirigiert, kann sich das nicht vorstellen. Ob das Begräbnis wohl auch mit
Blasmusik war oder ohne? Adjuvanten etwa?
Und ein Solotrompeter; dirigiert wird das Ganze vom Herrn
Generalmusikdirektor Schlüter.
Aber
nein, der ist ja schon im Warthegau, wo er hungern soll. Daniel aber sagt, auf
den leeren Thronsessel im Himmel habe sich ein ekelhafter Kerl gesetzt, einer
mit einem Pferdefuß, nein, mit tausend Pferdefüßen, ein Tausendpferdefüßler
oder Pferdetausendfüßler. Wie schnell der sein muß. Onkel Daniel ist ja früher
Stuhlrichter gewesen, muß es also wissen. Der K.-Großvater aber war nicht
begeistert, er schrie, Daniel sei schon fast ein Volksverräter: Die Kirche ist
doch die Kirche des Volkes, die Volkskirche, eine völkische Kirche zum Schutz
der sächsischen Nation, wie in der Tartarenzeit. Der Osten, der Osten, das
Chaos droht. Man muß zusammenhalten mit Gott und dem Führer im Herzen. Ja.
Und
schon mit dem Tod im Kopf, schrie der Organist zurück. Er wurde blaßrot und
dachte wohl an seinen SS-freiwilligen Sohn Andreas, der ihm großen Kummer
machte, dieser Andreas. Das mir!
In
der Zeitung standen Jubelnachrichten. Duce-Helden hatten einen britischen
Geleitzug versenkt: 15 Dampfer, 98.500 Tonnen. Ob mit oder ohne Menschen? Ein
Zerstörer torpediert, ein zweimotoriges Flugzeug abgeschossen.
Die
gestoppten Gesichter. zum Beispiel Onkel A., der Töff – nur noch ein Foto.
Darauf der Doppeladler: Montanistische Hochschule Leoben. Und seine
Unterschrift mit blauer Tinte. Und auf Großvaters Fotowand gab es ein spätes
Bild über dem Schreibtisch, man sah darauf A.s "sonniges Lächeln",
sein ovales Gesicht, weder nordisch noch ostisch geschnitten, ein wenig abstehende,
kleine, leicht verformte Ohren (die haben uns als Säuglinge alle nicht richtig
gelegt!), kleiner Glatzenansatz, wie hinein geschnitten ins Haar, genau wie ich selbst auf meinen
Uni-Fotos sieht er aus. A. blieb immer so (jung?) Da schaut mich ein netter
Junge etwas vergrämt an. SS-Mann? Die Runen hat jemand vom Foto vorsichtig und
sorgfältig getilgt. SS-Mann? Die Familie, vor allem sein Vater, aber sogar auch
seine Liebste, sie haben ihn so weit gebracht. Er zögerte, er war zu weich, er
war gegen das Soldatsein, dazu gar nicht geeignet. Doch wer sich nicht meldet,
wer feige sich drückt, ist ein ehrloser Hund. Ja, so hieß es, und ein Verräter.
So wurde er ein Teil davon. Auf dem Foto aus Leoben noch völlig unbeschwert,
ein wenig zusammengekniffen die Augen, wohl wegen des Fotografenblitzes. Ein
Ansatz von Grübchen. Rührend der breite Rockkragen, einfacher grauer Anzug,
weißgepunktete Krawatte, ein nicht gerade tadelloser und etwas schiefliegender
Hemdkragen. Dahinter eine undefinierbare graue, eine unheimliche Wand. Die Arme
abgeschnitten wie auf jedem Brust- und Paßfoto, keine Beine.
Wenn
er auf Fronturlaub kam, setzte er mich hoch auf seine Schulter, trug mich. Wir
machten einen Tagesausflug auf die Breite, Eichplateau, tausendjährige Eichen
mit lauschigem Schatten. Ich halte meine Hände über seinen gestutzten Kopf.
Hitlerscheitel. "Läuseallee", sagt er. Damit sich das Haar besser
hält, hat er am Morgen ein Netz auf, riecht nach Pomade und nach
Kölnischwasser. Die Tellermütze hing an der Garderobe. Ich spüre seine Stirn.
Wenn
die Sonne dann untergeht, die Nacht kommt, werden alle weich. Wie aufgelöstin
Wehmut. Georg bläst die Trompete aus den Wiesen. Alle sind gerührt. Der Mond
löst die Landschaft in Silber auf, sagt Tante Cäcilie. Der Mond kommt und
singt: Der Mond ist aufgegangen...
A.
ist in Zivil. aber er sieht auch in Zivil stramm aus. Andreas sieht in Zivil
noch strammer aus. Alle halten sich gerade. Brust raus, Bauch rein. auch ich
soll es so machen: Brust raus, Bauch rein, und der Turnlehrer Kraus klopft mir
auf den Bauch. Auf die Finger. Oder auf den Hintern. Mama auch. ein kleiner
Mann. Der Onkel setzt mir lachend seine kappe auf.
Heute
hat er keine Tellermütze auf. Ich spüre an seiner Stirn, wenn ich mit den
Händen den Kopf umfasse, um mich festzuhalten, eine klopfende Ader,. es ist
heiß, eine Buhlenhitze heute wieder und anstrengend.
Ich
kann ihn nicht mehr vergessen, diesen Töff, er war ein guter Kamerad. Am
vorletzten Tag seines Heimaturlaubs waren wir gemeinsam im Kino, im Astra-Kino
in der Baiergasse. Töff holte mich von zu Hause, vom Holzmarkt, ab.
Es
wird der Film "Fridericus rex"
gezeigt. Sehr spannend.
In
der Pause sagte ich: Heinz Rühmann in "Hauptsache glücklich" habe ich
schon gesehn, und Ilse Werner. Ich stritt mit Töff wegen der Filmschauspieler,
sie sind persönliche "Liebchen". Ilse Werner ist ja meine Lieblingsschauspielerin;
weil sie ein Grübchen beim Lachen hat und so flott pfeifen kann; Ilse Werner
habe ich in "U-Boote westwärts" gesehn. Das Gefühl des stählernen
Eingesperrtseins unter Wasser; das bange Sehen durchs Periskop. Aber: Das kann
doch einen Seemann nicht erschüttern.
Zitternd
saß ich im Kino. Catte, der beste Freund des Kronprinzen, des späteren Königs
Friedrich, soll im Hof des Schlosses erschossen werden. Friedrich und sein
Vater stehn am Fenster. Ein Sandhaufen
ist zu sehn, darauf kniet Catte.
Friedrich:
Doch möchte ich sagen, daß mein Sinn gewandelt. Und bitte Eure Majestät, daß
sie mir hilft.
König:
Mein Sohn, mein lieber Sohn!
Ich
an der Kino-Brüstung, Platz 27/28. Greife nach Onkel Töffs Hand. Der lächelt mich durchs Dunkel und
Surren und Flimmern an: Es ist ja nur ein Film, menj Jang. Beiß die Zähne
zusammen!
Friedrich:
Ich darf nicht weinen, sonst geht mir meine Festigkeit verloren. ich halte sie
mit Mühe.
König:
Tritt zum Fenster!
Friedrich:
Die Mannschaft harrt noch, das Gewehr bei Fuß. Ein zweiter Sarg. Er ist für
mich bestimmt?
König:
Er war für dich bestimmt, fand ich dich anders!
Friedrich:
Vor kurzem, Majestät, noch hätt' ich wohl
Gebeten, laßt mich meinem
Freunde folgen.
Jetzt sag ich: Laßt mich
leben, Majestät,
Denn ich gehöre meinem
Vaterland.
Wars
nicht so, daß Friedrich, der gern Flöte blies, und Catte ungehorsam waren,
desertierten? Insubordination! Weinender Vater, aber hart, grausam. Gerührt;
und doch mit bestem Gewissen: Hinrichten! Das konnte ich nicht verstehen. Auch
meinen Vater nicht, wenn er mich schlug und dabei weinte: Aber es muß sein!
Dann
fühlen königlich im Volke Alle, klang es mir aus dem Film entgegen: Und jeder
hat sein Ich vergessen. Und tut, was recht, und weiß nur seine Pflicht.
Ta
ta ta ta tatatatatata. Vater blies Fridericus rex auf seiner "Backentrommel", blies
die Backen auf und tremolierte mit der flachen Hand.
Als
wir dann ganz benommen aus dem Kino auf die Straße traten, dachte ich da
draußen: Ich träume ja. Wo ist Catte?
Und
dann mußten wir zum Haarschneiden. Mutter hatte es angeordnet. Es ist schlechte
Luft beim Friseur Roth. Über der Tür ein Glöckchen. Beim Öffnen: ein ton. Der
Ton schwingt weiter. In der Frisierstube roch es nach eingelassenem Fußboden,
Pomade, nach Kölnischwasser, im Spiegel konnte man den Fußboden und die
Gesichter sehen, Scheitel, gestutzte Köpfe, Nullerköpfe der Kinder:
ratzeputzekahl . Der Großvater ist auch da und läßt sich mit einem großen
Pinsel einseifen, ein scharfes Rasiermesser blitzt aus vielen gerahmten
Spiegeln; Kopfwaschen?
Der
Großvater glaubt an Gott, er ist Kurator; am Sonntag sitzt er im Kirchengestühl
ganz vorn. Was ist dein Wille, mein Gott? Du sollst mich lieben und sollst mir
gehorchen, ich bin der Herr, dein Gott.
Jetzt
war gerade auch der „Amerikaner“, der Mischonkel, Amis und Cäciliens Bruder zu
Besuch, der Schiffsarzt, einer, der nur mit Millionären zu tun hatte auf
Luxusdampfern, und der Misch erzählt eben, wie auf der letzten Kreuzfahrt ein
amerikanischer Milliardär an einem Herzinfarkt verstarb, und da hat er, der
Schiffsarzt ihn einbalsamieren müssen. Der Mischonkel saß unter dem Nußbaum und
erzählte, und wenn er erzählte, kam niemand zu Wort, nicht einmal das Mundwerk
der Tante Cäcilie war ihm gewachsen!
„Und
da hab ich meinen italienischen Assistenten dauernd zu ihm gecshickt, weil ich
mir meiner Kunst nicht ganz sicher war. Carlo, geh, schau mal nach, wie er
aussieht, hat er sich noch nicht verfärbt?“
Er
erzählte unmögliche Geschichten, die sich „wirklich“ zugetragen haben sollen.
So habe sich in Neapel eine italienische Opernsängerin in den Grafen Telek
verliebt, dabei sei er ein Phantom gewesen, und habe so am Leben bleiben
wollen, indem er der Sängerin Blut trank.
„Awer
Misch! Wollte ihm die Ami solche Geschichten untersagen. Die jungen Frauen aber
riefen: „Erzill, Mischonkel, Erzill“!“ Und erzählte die grausigste Geschichte
weiter, am Schluß aber schloß er immer mit einem Arienfragment: „Innamorata,
mio cuore tremante. Voglio morire!“
Diese Dauerflucht aus der Wirklichkeit“, höre ich
Mama sagen: „ Auch seine Reisen, er ist bis nach Australien gekommen, er war
viel in New York, oft in Triest, und dort hatte er auch einen unehelichen Sohn,
der Julius hieß. Ach, es war ja typisch für ihn, daß ihm das alles nichts
ausgemacht hat.“
„Ich
würde ihn gern kennenlernen, mit ihm sprechen! Geht das…?“
„Mein
Sohn , das geht nicht..! „Warum nicht? „Bei ihm geht das nicht! Er hat sich
vielleicht aufgelöst, er hatte keinen festen Kern. Auch das war ja typisch für
ihn, es hat ihm alles nichts ausgemacht. Er hat es einfach weggeschoben! Und
als unsere gute Grießi, meinen Großmutter, seine Mutter, mal nach Triest
gefahren ist, wo auch sein jüngerer Bruder, der Willonkel, der dort die
Militärakademie besuchte, Offizier werden sollte, krank war, Misch studierte
Medizin damals, sie sich einen Passierschein verschafft hatte, sie war schon
eine sehr tapfere und energische Frau, da tut sich die Tür auf und es stürmt
ein kleiner Junge herein, und die Grießi warf nur einen Blick auf den Jungen,
drehte sich mit strafendem Blick dem Schwerennöter zu und sagt nur kurz: Awer
Misch!! Der arme Julius trat in der Familie aber nie in Erscheinung, der
Mischonkel hat ihn einfach unterschlagen. Und schnapode behandelt. Das war
scheußlich. Der Julius, Sohn einer Triestinerin! Er wollte ihn nicht
anerkennen. Aber der fuhr dann jedes Jahr nach Rumänien, pflegte und versorgte
Hansonkel, den jüngeren Bruder vom Mischonkel, der krank war. Und geizig war
der Misch auch noch. Wenn er von seinen Weltreisen ins kleine S. kam, da hatte
er erst am Bahnhof die Ide, daß er seinen Nichten etwas schenken müsse; und da
gabs am Bahnhof so einen Ständer mit Schundliteratur, dort hat er schnell ein
Buch gekauft. Mir brachte er „Die kleine Dagmar“. Die Ami konfiszierte das dann
sofort. Und wenn er von seinen diversen Bräuten in den Häfen erzählte: Wießt
tea, det Fritzi, dat hat ech scher franjdert. Weißt du, die Fritzi, die hab ich
fast geheiratet, die hat mich fast rumbekommen! Dat hat mech scher ämeränk
bekun -. (Großes Gekicher und Gelache.
Vor allem mein Vater lachte da herzhaft
schallend). Mer hadden schien de Möbel bestallt. Awer ech hat mich dron
doch schniell aus dem Stuuw gemacht. Wir hatten schon die Möbel bestellt, aber
ich hab mich dann doch schnell aus dem Staub gemacht! Ein schöner Kerl war er
ja, aber voller Neurosen und Ängsten. Fritzi, sagte er zu meiner Mutter, net
wohr, hegt kit nichen Besack. Und wenn dann doch ein Besuch kam, dann
verschwand er durch die Hintertür und ab in den Wald, um ungestört zu sein. Nun
hatte man damals den Stadträuber Majorkowitsch gesucht, ausgerechnet auch in
unserem Steilauwald, die Gendarmen waren hinter ihm her. Und wenn der
Mischonkel dann so durch den Wald wanderte, begann er Gespenster zu sehen; er
war leger angezogen, weiße Hose, blaues Hemd, Tennisschuhe. Und plötzlich hörte
man ihn dann von oben aus dem Wald rufen: Hopphopp, Fritzi, äs de Bienesupp
fertig. Ist die Bohnensuppe fertig? Wäßt ihr, sagte er dann anchher, et kamen
plötzlich zwin Polizisten, und ech docht, nett datt dä mich hoppnien, datt dä dinken,
ech wer der Majorkowitsch. Ich dachte, daß die mich festnehmen, meinen, ich sei
der Majorkowitsch.
Ein
Horror wars für ihn, wenn er wegmußte, als hätte er Platzangst. Er mußte ja
seine Urlaubstage teilen zwischen uns auf der Steilau und Tante Cäcilie im
Mühlenhamm. Da war er schon ganz krank, wenn es hieß, morgen müsse er in den
Mühlenhamm. Er war lieber bei uns. Und ein wenig autistisch, wie er war, fiel
ihm jede Veränderung furchtbar schwer: Sall ech na wedder än en ander Bäd, ech
halden dat nett aus. Uch des Driem do. Soll ich denn wieder in ein anderes
Bett, ich halte das nicht aus. Und dann diese Träume dort. Vor den Träumen
hatte er ständig Angst, ging ungern schlafen, der Arme. Manchmal ließ er auch
einen fahren. Tea Misch! Sagte dann die Ami. Awer wat, do hot doch nor der
Stahl gekerzelt. Aber was, da hat ja nur der Stuhl gequietscht.
Er
hat auch an der Börse spekuliert. Und auch verloren. Zuletzt hat er in New York
gelebt. Aber das ging nicht besonders. Er war schrecklich empfindlich und oft
gedankenverloren, kaum geeignet für das Großstadtleben. Und er hatte ständig
vor irgend etwas Angst, alle Dinge rückten ihm auf den Leib, und vor jeder
Berührung grauste es ihm. Immer gabs Krach, wenn man seine Bettwäsche wechseln
sollte. Ihr seid ja verrückt, sagte er dann: kaum hab ich mich an einen Polster
gewöhnt, nehmt ihr ihn mir schon wieder weg. Ebenso genial ging er mit seinen
Hemden und mit seiner Wäsche um: Kaum hat man sich an ein Hemd gewöhnt, reißt
ihr es einem schon vom Leib. Ihr seid ja fanatisch mit eurer ewigen Putzerei
und Wascherei.
Er
war hochintlligent und begabt. Er konnte zehn Sprachen. Und er sang Opernarien
auf Italienisch á la Caruso. Ich hör ihn noch heute, seh ihn, wie er datsteht
und singt. Aber er war eben auch furchtbar nervattich. Nachts wie gesagt, hatte er Alpträume, schlug
richtige Schlachten im Traum, er flog, da kamen die Ungeheur, alle weichen
Dinge krochen ihm angeblich tief in seinen Leib, in seinen Kopf rein; daher
gabs auch Streit wenn er seinen Pyjama wechseln sollte, vor allem, wenn die
Pyjamas aus Barchent waren, ihm Hautausschläge verursachten, Allergien, so daß
es ihn entsetzlich juckte.
Und
wie gesagt, der Mischonkel dachte nur an sich. Hat auch seinen Sohn, den Julius
verleugnet. Andreas hat dann diesen Sohn später wiederenteckt. Andreas hat Sinn
für Ahnen- und Familienbforschung; er ist schon ein Familienathlet, ist davon
überzeugt, daß Ahnenforschung das wichtigste überhaupt sei, was es für uns
geben kann! Er war auch der erste, der sich einen Ahnenpaß machen ließ! Mit den
Runen. Merkwürdig, nicht, daß Andreas ein Familienathlet ist. Aber er ist gar
nicht aus der Art geschlagen, wie der Mischonkel. Doch etwas Gemeinsames haben
sie ja trotzdem, sind bedie nervattich, Willi, sein Bruder, war sogar
mondsüchtig! Er lief bei Vollmond um den
Küchentisch und rief: Ech sterwen, ech sterwen, ech sterwen! Wir hatten alle
Angst davor! Er war dann wie ein Gespenst ganz blaß und übernächtig!
Doch
Sorgen machten uns allen auch der Tallo, der blaßgesichtige Jüngste, ein
Kriegskind war er, wie meine Mutter sagte, laßt den Armen, sekkiert ihn nicht,
er ist ein Kriegskind, war blutarm,
hatte schreckliche Prüfungsängste als Abiturient, und fiel dann auch durchs
„Back“, hatte wie gelähmt vor der Prüfungskommision gesessen und kein Wort
herausgebracht. Alle, alle waren sie nervattig, sogar die andere Seite, der
Bistritzer Großvater.
Du
siehst, alle haben da etwas Verschupptes, vor allem aber Tante Cäcilie hat das,
dies Hysterische, die Reedritis und das Sprunghafte. Und Ulrike, meine Cousine, die doch in
Bukarest mit diesem Mircea, dem armnen Teufel, der sich aus dem Fenster getürzt
hat, gegangen ist, die ist genau so überschäumend und neurotisch-nervattich.
Der
Mischonkel aber, der war amüsant, der war köstlich. Hast du es nicht erlebt,
wenn er vorzeigte, wie man tanzt, das war oben auf der blauen Veranda im
Baumgartenhaus: Tatatatata, Paß, jetzt, hallo, so! Wäßt ihr, isi hun mer än der
Danzsteangt gedanzt: Taratatata, Paare jetzt! Kamm, mer sellen et probieren.
Und die Ami protestierte: Misch, ech
bidden dich, mach net esi en Komedie mät den Känjdern! Und er: Na kitt en
Zickipussi. Und davor hatten wir Angst, Friederike und ich, wir sträubten uns,
konnten das nicht ausstehn, wenn er uns in den Arm nahm und uns schmatzend auf
den Mund küsste. Ekelhaft, wie ein Reptil. „Kaiser Franz Josef“ hieß sein
Schiff, Heimathafen Triest. Hast du diese alten Fotos gesehen, köstlich: Kaiser
Franz Joseph im Hafen. Kaiser Franz Joseph im Sturm. Kaiser Franz Joseph auf
hoher See! Köstlich, diese alten verblichenen Aufnahmen.
Wann
war das gewesen?
Naja,
das knann 1934 zur Zeit deiner Geburt gewesen sein!
Und
da gabs wohl große Temperamtesunterschiede zwischen Michschonkel und dem
Großvater??!
Ja,
das mußt du dir vorstellen, wenn der Mischonkel sich produzierte. Der
K.-Großvater sah mißbilligend auf den unbeherrschten verweichlichten Schwager.
Dieser Kosmopolit und Weltenbummler, schon ganz undeutsch in seiner Art; der
Großvater aber diskutiert mit Oberbaurat Jacobi über die Stadtsanierung. Gerät
in Eifer. Dabei gings vor allem um die Kanalisation, die nicht anständig
durchgeführt worden ist.
Wollen
wir, sagt er ärgerlich, die unterhalb des Galtbergs und den Knopfes gelegenen Häuser in der Unteren Baiergasse,
der Hinter- und Schaasgasse und
teilweise am Marktplatz vom Grundwasser befreien und verhindern, daß die
Schmutzwasser das Innere der Stadt, besonders im Winter, in ekliger Weise
verunreinigen? Und wollen wir die Ausbreitung der Kläranlagen mit ihren
durchaus nicht einwandfreien Ausflüssen in die Kokel, den Hundsbach, als ziel
setzen, so werden wir in absehbarer Zeit nachholen müssen, was wir sonst fast
umsonst bekommen hätten, wäre der Zufall des Krieges nicht gewesen und damit
die enorme Geldentwertung. (Der Umtausch der Kronen in Leu brachte fast 60%
Verlust!)
Der
Oberbaurat nahm einen Schluck, sah den Obertierarzt freundlich an und wies
darauf hin, daß ja einiges vom Magistrat geleistet worden sei, so ist es ja
nicht, alter Freund. Auch ihm beleidige der unangenehme Geruch in der Stadt oft
die Nase, vor allem im Frühjahr und im Herbst, wenn der Grundwasserspiegel sich
hebt, aber schließlich sei die Neuregelung der Feldhut, die Verlängerung der
Burgpromenade, der Bau der Stierstallungen – was dich, Karl, ja besonders ehrt
– dann die Asphaltierung der Park-, Bahn- und Schaasergasse, sowie dann der
Martin Eisenburgergasse und der Albertstraße
Aber
unser Tallo machte dem Großvater Sorgen. Ist doch sonst so forsch, wenn er
"die Männer" des Coetus beim Skrobatiusfest , bei den Aufmärschen mit
der Blasia streng anherrscht: Wer spricht da im Glied!
Sehr
ungeschickt, abwesend. Liegt im Braten. Ziehn ihn dann auf, die älteren
Geschwister; vor allem dieser Fratz, die schnippische Eri, sonst ja seine
Lieblingsschwester, die Schnuck, aber auch der sarkastische Hermann, sonst
verträglich, der Hamuker. Und dann wettert unser Töffti los, stampft mit den
Füßen auf, leicht unartikuliert wütend, als hätte ihm jemand seine offnen Nervenenden
berührt. Er ist ein Schwieriger, seufzt der Tierarzt. Trabt schnaubend und
prustend davon über die Katzenköpfe des Hofes, durch die Baiergasse, manchmal
mit der Agnethler Kleinbahn um die Wette, die der Post zu faucht und pfeift, es
kaum schafft; da hat er wenigstens einen "Überlegenheitsspaß", sagt
er.
So
ein Schäßburger Frühnachmittag. Aber dem Jungen kommt wieder sein sonniges
Lachen, wenn er die dunkelblaue Mütze mit den Oktavafarben abnimmt und Bekannte
grüßt; verraucht ist der Zorn af des Schkäpsen, seine Schwester und det
Schwenj, seinen nüchtern überlegenen Bruder. Was die sich einbilden! Als er ins
Lager zog... Gut, dies Lager zur Ertüchtigung. Gegen dies Weiche und Verträumte
in uns, sehr gut. Zum futtern nach schwerer Arbeit, also Bewässerungsgräben
ausheben bei Trappold, gestählter nackter Oberkörper, "Arbeitsmänner"
marschieren mit geschultertem Spaten in Reih und Glied und ein fröhliches Lied
auf den Lippen.
Heute
wollen wir marschiern,
einen
neuen Marsch probiern,
übern
grünen Westerwald
ja
da pfeift der Wind so kalt...
Oh,
du schöööner...
Zum
Futtern, kräftige Kost war da nötig.
Vor
allem dieser kleine Affe, unsere Eri, verspottete ihn, Kinder sind ja grausam:
sie, als hätte sie den Veitstanz lacht und quiekt, flettert und macht alle
nach, ein Irrwisch; A. hatte seine Initialen (Karl K.) auf die nach Vorschrift
eingepackten Lebensmittel geschrieben: K.K.-Bonen. Sie gaben ihm alle möglichen
Spitznamen, Töffti, Tallo, Ali. unser Irrwisch spottete: K.K.-Bonen,
kaiser-königliche Bohnen, und führte dazu einen Indianertanz auf.
Dabei
sollte diese Göre wissen, was wir Männer leisten, denkt vielleicht der arme A.
Das
greift ans Herz, Lied und Vogelstimmen, und gesunde Oberkörper, wie die Zukunft
leuchtet auf dieser Lichtung. Kameradschaft. Gemeinschaft, da gehört jeder
dazu, sogar die Stupsnase, das häßliche Gesicht, das Schielen, die
hervorstehenden Backenknochen – all das wird geläutert, wenn der Mann in der
Formation erscheint, hier im Spiel wird sogar die Säufernase plötzlich
reingewaschen vom Morgen, alles Jüdische, alles Asiatische verschwindet.
Vielleicht geerbt? Jede heimliche Schuld der Ahnen, die einer im Blut mitzuschleppen
hat als vielleicht unglückseliges Erbe, das ihn unrein, minder machen könnte.
Manche sind vielleicht körperlich etwas behindert und leiden seelisch unter den unglückseligen
transsylvanischen Depressionen, wohl ein
Erbe unserer jahrhundertealten Inzucht.
Unbeschreiblich
tief greift es ins Gemüt, das es aufwühlt, so daß die Tränen locker sitzen.
Heil, heil, heil möchtest du immerzu rufen. Teil dieses zuchtvollen
Einmannwesens sein, das wir sind, wenn wir soldatisch, nicht in der Masse, dem
Sauhaufen stehn, wenn es in uns hineingreift, wie ein tiefer heiliger Gehorsam,
mitschwingend im Herzen, nicht im trüben, nein im geläuterten bewußten Willen,
der gestählt alle deine Glieder durchdringt, und du dich straffst, spürbar im
Marsch, wenn es deine Beine hochreißt, wenn es dich dabei durchrieselt im
Entzücken, dazuzugehören im Rhythmus des einen Taktes, den kosmische Wellen zu
durchzucken scheinen, unbeschreiblich in der Größe, unsichtbar im heilgen Mitmarschieren
für die Idee, Teil der Idee.
Auch
der Strom dieser Reden aus dem Reich, der uns durchgießt, der uns erhebt, ist
unbeschreibliches Entzücken, erhoben zu sein, ein Sein zu sein, als solches ein
Sein hocherhoben im Strom des Deutschseins, wir sonst ausgeschlossen in der
fernen Heimat, nun zum Reich und zu seinem Führer und zu seinem Volk zu
gehören.
Am
nächsten Tag sah ich im Holzmarkthaus Fotoalben an (sie waren immer noch da,
bei der überstürzten Aussiedlung vergessen worden), las Zeitungen, las
vergilbte Familienbriefe aus alten Kartonschachteln, aus Schuh- oder
Schokoladeschachteln und Koo-i-noor-Büchsen; nahm Fotos aus einer Blechdose,
auf der Kinder mit Tschakos und Holzschwertern hintereinander hermarschierten;
abgebleicht freilich die Dose, mit Kratzern auf der Farbe, daraus zog ich wie
beim Zaubern das bekannte braunblasse Großvaterbild hervor: Karl K. saß als
kaiserköniglicher Offizier auf einem Schimmel, war ein Herr, saß aufrecht im
Sattel; auf einem Klepper neben ihm der Bursche; Galizien 1917. Winzige
Negative in der Koo-i-noor-Schachtel, oder Faschingsfotos aus den dreißiger
Jahren, gelblich, die Umrisse kaum erkennbar, wie Geisterbilder – schwebend,
leise Stimmchen schienen hörbar zu werden, schienen hervorzukommen, auch die
Figuren wurden lebendig; im Zimmer ein rumoren wie zu Hause: Ich sah das
Herrenzimmer auf dem Holzmarkt, es muß 1934 gewesen sein, Frühjahr, Mutter mit
dickem Bauch auf dem Eckdiwan. Ich muß wohl im Kommen sein – um sie herum die
Großfamilie, Onkel A. im dunklen Anzug mit Gerda, auch sie elegant, als Jüngste
die beiden auf dem Boden hockend, A. und Gerda nun schon lange tot, tot auch
mein Vater, der hinter ihnen saß, eine dicke Hornbrille entstellte sein
Gesicht; dann Franzonkel, Hildetante, Friederike ganz jung und mit Konch,
Gustitante und Hermannonkel; am grünen Kachelofen lehnt Rosika, die Szekler
Magd, nur ein Schatten ist von ihr zu sehn; auch die Bibliothek ist nicht
erkennbar. Alle sind tot, außer der jungen Mutter und dem damals Ungeborenen.
Die
Gartenwege sind schön gekehrt und geharkt. Auf dem Verandatisch liegt die
blaugepunktete Decke, und auf dem alten blauen "Glaskasten" von Ami,
Eris Mutter, steht im dicken Tonkrug ein großer Feldblumenstrauß. Ami hat die
Riesenportion "gefüllte Ardei" eben fertig und schickt Marischka, das
ungarische Dienstmädchen, mit der "Bremer Speise"-Creme in den
Keller. Harry, der Schäferhund, liegt schläfrig vor der Verandatür. Plötzlich
spitzt er die Ohren, und schon ertönt vom jenseitigen Bachufer Tante Cäcilies
melodisches "Hopp hopp", der Familienbegrüßungsruf. Und bald gibt es
eine stürmische, lautstarke Begrüßungsszene. Ja, das ist die geliebte Tante
Cäcilie, wie immer in ihrem weißen Kleid, den Florentinerhut mit dem schwarzen
Samtband auf dem Kopf, ein Wortschwall in unnachahmbarer Schnelligkeit ergießt
sich zur Begrüßung über alle. Ruhig, still daneben Onkel Daniel mit seinen gütigen
blauen Augen. Dann ihre zwei Söhne, Andreas und Reinhard.
Nach
der Begrüßung werden die Badesachen hervorgeholt, und schon gehts hinunter zum Schaaser Bach. Unter dem Wehr,
am "Dusch" erfrischen wir uns. Nach dem Bad essen wir Himbeeren im
Gemüsegarten und schütteln den Sommerreisapfelbaum. Auf der Terrasse, unter den
alten Eichen ist dann die lange Familientafel gedeckt. Jeder nimmt seinen Platz
ein, der Großvater begrüßt die Gäste, und Tante Cäcilie sagt ein Gedicht auf:
Immer hat sie ein Goethezitat bei der Hand. Alle sind ergriffen und gerührt.
Aber bald gibt man sich den leiblichen Genüssen hin. Die "gefüllten
Ardei" werden aufgetragen.
Ergriffen
und gerührt. Soo schön. aber dann hebts "Tschawalles" an: Alle reden
durcheinander. Tante Cäcilie am schnellsten, zungenfertigsten. Man kann sein
eignes Wort nicht verstehn, brummt Eris Vater.
Diese
schlechte Familienangewohnheit. Warum schreien sie? Unbeherrscht. Keiner hört
dem andern zu. Wie ein großes wabberndes Wesen umgibt die Großfamilie alle,
zieht sie zu sich rein, diese Atmosphäre der Nähe auf der Eichterrasse an den
reichlich gedeckten Tischen – ist dick zum Schneiden, mit den Händen faßbar, und
man bewegt sich sicher in dieser Umgebung, im kühlen Schatten, in diesem
Element des glücklich Vertrauten: Alles ist so einfach und schön geordnet wie
die Schüsseln auf dem Tisch. Und doch - warum schreien sie alle durcheinander.
Als wären sie gefährdet, als müßten sie ertrinken oder sich gegen irgend etwas
selbst behaupten? Es ist so, als wären sie alle mehr, als stände ihnen mehr
Selbstbewußtsein zu als sie bekommen, als sie hier jedenfalls brauchen können.
Oder ists ein Rausch, dieses Zusammensein, in dem man das tägliche leise
ziehende Unbehagen, diese leise Angst vor dem Kommenden vergessen kann?
Die
Männer sind ruhiger. Als hätten sie sich an eine Ahnung von etwas
Unvermeidlichem längst gewöhnt; man ist hier so schön geborgen, und doch ists
so, als wäre dies alles nicht mehr ganz wirklich; der Nußbaum, die Terrasse,
der Blick auf die vertrauten Konturen der Burg, die Buner Berge, die Nähe hier:
die Tannen, der Huflattich zwischen den Steinen – alles ist schon wie längst
vergangen, wie stehngeblieben, wir: auf einer kleinen Insel.
Eris
Vater sagt manchmal: Seit dem verlorenen Krieg von 1918 und dem Zusammenbruch
der Monarchie ist nichts mehr so wie es war.
Der
Himmel bedeckt sich plötzlich mit dunklen Wolken, es ist drückend schwül,
konnte nicht regnen. Dann endlich sausen dunkle Schatten lautlos über die Erde.
Ozonduft, Frische. Erste große Gewittertropfen. Schnell die Stühle reintragen.
Und
als wir dann gemütlich im Sommerhaus auf der Veranda sitzen, meinen wir zu träumen.
Krachend schlägt der Blitz in der Nähe ein.
O
Jessus, Urahne, Großmutter, Mutter und Kind, ruft die Ami erschrocken, als
könnten sie die Worte schützen wie ein zauberspruch.
Ja,
es sind ferne Heimaten in uns, Wolkenstreifen, wir denken immer, es könnte
jeden Augenblick etwas Schlimmes passieren.
Und
Andreas sitzt am Fenster und sieht auf die Silhouette der Burg, die zwischen
den tiefhängenden Regenwolken und den Regenstreifen gerade noch zu erkennen
ist: Es schüttet. Es trietscht; durch den Hohlweg schießt schon gelbes
Lehmwasser, die Wege sind kleine Bäche.
Andreas
fühlt sich einsam, verlassen.
Und
Eris Vater versucht, das Gespräch wieder zu beleben. Aus dieser Stimmung heraus
redet er laut in den Raum, die Worte wie schwere Brocken.
Wieder
politisiert er, kann es nicht lassen:
Und
tatsächlich ists so, als sei seit 1918 alles tiefste Provinz bei uns. Das war
doch anders, als wir noch zur Monarchie gehörten; als sei man abgeschnitten.
Budapest oder Wien waren ja auch weit; ja, aber Bukarest – die neue Hauptstadt,
es kommt mir vor, als wäre sie gar nicht vorhanden.
Sie
wollen uns verschwinden lassen, einbauen in ihren Staat: Andreas ist wieder
sehr erregt. Das wird ihnen aber nicht gelingen.
Er
steht auf wie elektrisiert und trommelt an die Scheiben: Die neuen
Minderheitenverträge werden nicht eingehalten. Und wem gelingts, in den
Staatsdienst zu kommen wie früher. Was sollen wir noch hier?
Schon
während des Mittagessens, als er seine dreißig Zwetschgenknödel
hinunterschlang, übermütig rief: Menj Boch jubiliert!, hatte er sich über diese
Unverschämtheit, die sich die Walachen leisten, ereifert.
Jaja,
die haben wieder führende Parteigenossen verhaftet und dem Buchhändler
Ambrosius verboten, "Mein Kampf"
und andere wichtige deutsche Bücher im Schaufenster auszustellen. Stell
dir das nur mal vor, nachdem doch die Bewegung im Reich solch einen grandiosen
Sieg errungen hat!
Man
hatte bei dem Geschrei nicht viel von diesen Männersachen gehört, die Worte
waren versickert. wie von einem großen Wesen, einem Kobold, werden alle, aber
vor allem die Frauen befallen; eine leichte Hysterie liegt in der Luft, als
könnte jederzeit einer wirklich anfangen zu toben, zu weinen, sich die Kleider
in Fetzen zu reißen. Aber nichts geschieht.
Auf
der Bücherstellage von Eris Vater lagen die dünnen bräunlichen Hefte. Das
letzte Heft enthielt diesen Aufsatz vom ehemaligen k.u.k.Rittmeister Fritz
Fabritius aus Hermannstadt, und Onkel Daniel wetterte gegen ihn, man werde ja
sehn, was aus dem gräßlichen Schwulst werde. Böse war Onkel Daniel auch, weil
Andreas in die SAM-Arbeitsmannschaft eintreten wollte, sich dauernd bei denen
herumtrieb und ungeheuer bombastisches Zeug von sich gab: Dieser Finsterling
von einem Rittmeister ruiniert doch die Sachsen.
Zum
Sommerfest des Karpatenvereins am Samstag in der "Villa Franca" (mit
Blick von der Höhe auf das schöne Stadtbild. Waldhornmusik, Lieder und frohes
Tanzvergnügen. Ein herrlicher Sommerabend. Bergheil!) hatte Andreas jenes
Pamphlet des Rittmeisters mitgebracht:
"Weil
nun hier gründlich auf allen Gebieten des Volkslebens mit der die meisten
Volksgenossen beherrschenden ichsüchtigen Einstellung gebrochen und der Weg zur
alten, wirklich und einzigen "deutschen" Lebensauffassung und
Lebensführung gefunden und begangen werden mußte; weil den unorganischen, auf
restlose Zerstörung wirkenden Kräfte organische, aufbauende, lebenweckende
Arbeit entgegengestellt werden mußte... und aus der Verantwortung vor Volk und
Gott ist die Selbsthilfe entstanden. Sie will:
1.
art- und blutgemäßes denken, organisches Zusammengehörigkeitsgefühl im volke
wieder wecken und fördern...
2.
eine Kampfgemeinschaft aller sich für unser Hochziele einsetzenden, gleichgerichteten
Kreise sein, weil nur Kampf schöpferisch ist...
3.
die Grundlage für ein erdhaftes Leben, d.i. unsere Wirtschaft im deutschen Sinn
so ordnen, daß diese nur ein Werkzeug und die Grundlage des völkischen und
geistigen Wiederaufbaus werde; daß das Geld wieder dem Menschen und nicht
dieser dem Götzen "Gold" untertan werden.
EINER
FÜR ALLE, ALLE FÜR EINEN – JEDEM DAS SEINE!"
Na,
ist das vielleicht nichts. Wir müssen uns wehren und mehren. So ist auch dieser
neue Mann, der Hitler, unser Mann, dachte Sles: Ein Retter in der Not.
Andreas
lag mit seiner Liebsten im Gras. Geburten in Siebenbürgen können recht
kompliziert sein, sagte er zu ihr. Kinder mit Wasserkopf sind keine Seltenheit,
Alfen. Aber dieses muß bekämpft werden, mit allen Mitteln und unbedingt. Wir
haben den Kampf mit den Ungeborenen aufgenommen . Daher auch der Jubel vor
einem Jahr. Verstehst du? Seither träumen die Frauen vom Führer.
Wie
es da durchschlug bei den jungen Leuten. Auch bei Mutter. Und es sag ja auch
alles so jung und sportlich, frischgewaschen, sauber gekämmt und gebügelt aus.
Und man turnte viel... Frisch, fromm, fröhlich, frei/ ist die ganze Turnerei.
Schlagt
die Pauken und Drommeten
Turner
in die Bahn
Turnersprache
laßt uns reden
Vivat
Marlitt
Vivat
Vater Felix Dahn
Heil!
Umschlingt euch jetzt mit Herz und Hand
Brüder
aus Nord, Süd- und Überhauptdeutschland!
Daß
einst um eure Urne
Eine
gleiche Generation turne.
Volksgesundheit also, um das Verschwinden zu bremsen, das
dann eben genau durch den Versuch, es zu verhindern, eintraf, das große
Heimatverschwinden auf die Art, wie wir es heute kennen.
Eben
an jenem Tage also, als ich heraus sollte und partout nicht auf die Erde
wollte, war der Stadttierarzt, mein Großvater, morgens dabei, über Land zu
fahren.
Der
Großvater war sehr besorgt, denn eine seiner Töchter war als Kind an Diphtherie
gestorben. zu oft wurde von den Gefahren der Inzucht, den vielen Wasserköpfen
in den Dörfern gesprochen und auch von den transsylvanischen Alfen, Geistern,
die ihre mißgestalteten Kinder blitzschnell und hast du mich gesehn, mit dem
gesunden Säugling vertauschen und sich gleich aus dem Staub machen, aus dem
wir ja sowieso gemacht sind.
Onkel
Georg war noch viel früher aufgestanden, als der Großvater. Kurz vor sechs und
bevor er ins Büro ging, dem er im Elektriziätswerk vorstand, hatte er diesen
Morgen eingeblasen. Er blies auf seinem Flügelhorn von oben aus den Wiesen den
Trompeter von Säckingen:
Behüt
dich Gott, es wär so schön gewesen
Behüt
dich Gott, es hat nicht sollen sein.
Herrlicher
Duft. Über den Buner Bergen noch sehr blaß die Venus und die Mondsichel.
Bratenfett
vom Vorabend war längst verduftet, auch der Rauch der Petroleumlampen. die
weiten Röcke der Großmutter lagen auf dem Stuhl neben dem Bett. Staubgeruch auf
der Landstraße, kühles Staubmehl, Pferdeäpfel.
Die
Geburt – eine gefährliche Sache. durch fehlerhafte Haltungen und Drehungen des
Kindes entstehen schon im Mutterleib Vorderhauptslagen und hintere
Hinterhauptslagen, Gesichts- und Stirnlagen. Wie eine Schraubenspindel dreht
sich das Ungeborene im knöchernen Kanal ans Licht, macht es jedoch eine einzige
falsche Bewegung, folgt die so gefährliche Zangenextraktion am Beckenende.
An
diesem Morgen war der Großvater früher aufgestanden, wie ein großer Engel im
Nachtgewand im Hof erschienen.
Er
nimmt die Zeitung, klemmt sie unter den Arm und geht durch den Gang am Stifken
vorbei zur Eingangstür, aufrecht, nicht schlurfend
,
aufrecht wie ein Soldat; frische Morgenluft, Tannenduft schlägt ihm entgegen,
er schnuppert und murmelt: Hiesch äs der Dach hegt. Und Vogelkonzert antwortet.
Da geht der Mann mit der scharfen, leicht gebogenen Nase hinaus in den
verkrauteten Hof, schreitet über die weißen Chlorodont-Spritzer, die die
zähneputzenden Kinder auf dem gerippten und gewundenen Huflattich hinterlassen
haben, geht im langen weißen Nachthemd, ein Erzengel in Pantoffeln, am Backofen
und der "Wassertinne" vorbei zum Plumpsklo. Die fahrbare Wassertonne
hat eine Deichsel für den Esel des Zigeuners: Ja, der Puscas muß wieder mal
gerufen werden!
Öffnet
die Plumpsklotür, setzt sich, entfaltet das Blatt.
Ein
Blick in die Heimatspalte: "Das Landeskonsistorium beschließt über
Volksgesundheit. Ausschüsse für Wohlfahrts- und Gesundheitspflege, weingeist-
und tabakfreie Sonntage (Armen-, Kranken-, Waisen-, Krüppel-, Taubstummen- und
Blindenpflege, Pflege der Schwachsinnigen und Geisteskranken, der Trinker, Geschlechtskranken
und Schwindsüchtigen..."
Diese
Zeit. Schwere Zeit. Große Zeit, große Sorgen. Hoffentlich ist das Kind nicht
erblich belastet. Er starrt ratlos auf die gelesenen Zeilen. Blut muß
reinerhalten bleiben. Manche in unserer Familie sind nervattich. Vor allem
unser Misch, der Schwager. Und Töff ist oft sehr ungeschickt und abwesend.
Gottseidank sonst munter: Beim Coetus ist Töff Fuchsmajor, er herrscht die
Männer an, hab ich gehört: Wer spricht da im glied?
"Es
predigt in der Klosterkirche, Sonntag, den 12 August: Pfarrer Georg Ließ,
nächsten Sonntag, den 19.August: Pfarrer Georg Ließ... Erkältungskrankheiten,
Nervenschmerzen, Grippe. Geistliche Abendmusik in der Klosterkirche, der
Leipziger Thomanerchor kommt am Freitag, den 24. August..."
Er
hustet vor Erregung, er schneuzt sich. Chronischer Katarrh. Sein Blick fällt
auf die Zeile: "Togal löst die harnsäure, beseitigt die Krankheitsstoffe."
Morgens im Bad Salzwasserlösung in die Nase, fast genauso gut, überlegt er,
Naseneingänge frei halten.
Er
steigt dann etwas später unten an der Tornatz auf den Leiterwagen, freilich
nicht wie ein großer Engel im weißen Nachthemd, sondern nach dem Frühstück, das
er auf der blauen Veranda einnahm und nachdem er sich in seinem Schlafzimmer
reisefertig gemacht hatte, schritt er den Fahrweg hinab bis zur Tornatz, wo der
Leiterwagen stand, der Herr Wagner und die Pferde warteten.
Der
Großvater auf dem Leiterwagen fährt eben am Letjew vorbei. Im Wirtshaus sitzt
schon der Hartmann, denkt er, verkommenes Subjekt, stiehlt dem Herrgott den
lieben langen Tag. Pale säuft er; wer? der Herrgott? Dummerjan, der Hartmann
doch wohl. es werden immer mehr und mehr. Gut, daß ich meinen Armeerevolver
behalten habe. Auch Jagdgewehr für alle Fälle. Überfälle zunehmend. am
schlimmsten die Aufrührer, Wahnsinn und Rebellentum.
Staubmehlstraße,
große Wolke hinter dem Wagen, Ferne. Wie in der Fibel; bittschön, bei uns noch
alles in Ordnung. Pferde traben und furzen, Hüh, überwältigend. Und gestern
Hindenburgs Begräbnis. Ordnung herrscht. wider Pöbel und Revoluzzer.
Das
ferne Ostpreussen, Neudeck um Mitternacht. Nur die Familie, dann Personal,
Gutsleute, viele treue Bauern und Knechte. Die Treuedietreue. Von Neudeck bis
Tannenberg standen sie, Tausende Treue Spalier. Die Sargträger nicht, die gingen
voran: Zwei Hauptleute, zwei Kapintänleutnants, wie sichs gehört am Rand
versinkender Geschichte.
Und
bald kommts Kind ins Gassenhaus. Heut oder morgen,
Sache.
Gezogener Degen, Reichskriegsflagge, Kränze ohne Zahl über dem Eingang, in
eherner Ruhe Reichswehr, zwei Batallione Infanterie, zwei Schwadron Reiter.
Felder
ringsum flimmern schön. Süße Heimat, komm bald wieder. Und zwei Batterien
Artillerie, drei Leibregimenter, Präsentiermarsch, die Lafette mit Sarg, sechs
Rappen; Fahnensenkung, Fahnenhebung.
Also
oben, jaja, im Deutschen Reich, da ist alles in Ordnung. Pöbel beherrscht, der
Achtzehner, die Schuld annulliert.
Aber
etwas merkwürdiges haben sie oben eingerichtet. Schon dieses Wort
Konzentration... Konzert, nein auch in
der "Dimineata" stand was von Gespenstern, die da rein müßten, Volksfeinden.
Im
Januar schon hatte Hermann, der ja oben studiert, im Lokalteil "Aus der
Heimat", Dachau-Innersdorf, gelesen, natürlich zuerst den Wetterbericht,
den man überfliegt: Wetterbericht, ausgegeben am Samstag, den 13. Januar 1934,
mittags noch vereinzelt Regen und Schneefälle, dann zeitweises Aufklaren,
schmales Zwischenhoch, kein weiterer Temperaturanstieg.
Dann
aber war die Rede von jener merkwürdigen neuen Einrichtung. Da stand: "Der
neueste Wachkommandant. Der Führer des 1. Sturmbanns der 56. SS-Standarte
Norbert Scharf wurde zum Wachkommandanten des Konzentrationslagers
berufen."
Greuelnachrichten
aber und Gehässigkeiten des perfiden Albion aus dem "Manchester
Guardian", daß es in der neuen Einrichtung etwa 2700 Gefangene gäbe, daß
einige mit feuchten Handtüchern und drahtumwickelten Ochsenziemern, die die
Gefangenen sogar selbst verfertigen mußten... ja, daß einige von ihnen
vermittels 25 – 75 schweren Schlägen zu Tode geprügelt worden sind, sind energisch
dementiert worden.
Diese
Feinde! eine Welle der Besinnung geht ja durch die Welt, hat gesagt Hutmacher
Lingner, auch geschrieben im "Boten". Schriftführer Freiwillige
Feuerwehr. zu Ehren großes Ereignis: 10 Steigerübungen, 12 Spritzenübungen, 8
Sanitätsübungen, 9 Gesamtübungen und 9 Vorträge, wozu also noch Punkt und
Komma, wenns läuft wie geschmiert?
Übertragungen ausm Reich Spottpalast und war das Herz geht dir auf Mund
auch über Mund auf und Mund zu aber ohrenbetäubend Jubel nämlich Heil
Deutschland und da kommt er schon.
Also
oben jaja da im Deutschen Reich ist alles in Ordnung. Pöbel beherrscht. Der Achtzehner,
die Schuld anulliert.
Als
ich im Achtzehner dann abrüstete, nach hause kam, da hatte sich auch in der
Heimatstadt alles verändert: Bei der Neuen Brücke eine ungeheure Flut, das
dahin schießende Wasser, das Trommeln der Wassermassen an die Fensterscheiben
war zu hören, der alte Schopfen mit den Familienbriefen aus der Verlobungszeit,
den Kriegsbriefen aus dem Feld: Galizien,
den Briefen von Misch aus Amerika – weggerissen. Ich konnte gar nicht
nach Hause. Und alle Gesichter wie zehn Tage Regenwetter, fahl,
"verwapelt", die alten Unterscheidungen paßten nicht mehr in diese
völlig aufgeweichte Landschaft.
Vielleicht
werden wir plötzlich und ganz unheroisch eines Nachts in der Kokel zusammen mit
angeschwemmten Hühnern, Kühen, Schweinen einfach ersaufen. Oder auf dem Klo
morgens beim Zeitungslesen. Das Haus stürzt ein. es wird unweigerlich nach
einer Zeit einstürzen.
Wofür
ist der alte Wilhelm gefallen. Soldatenehre. Fiel an der Spitze seiner Kompanie
in Galizien in den ersten Tagen des Vierzehner, mit gezogenem Säbel erstürmte
er als blutjunger Leutnant eine Anhöhe und brach im mörderischen Feuer eines
Maschinengewehrs schon bei den ersten Schritten zusammen; die andern stürmten
weiter. Und seine Mutter, die Grießi, soll genau in seiner Todesstunde einen
Schrei gehört haben. Sie wußte: As Willi äs died. Äs gefallen.
Pflichterfüllung, absolute Pflichterfüllung. Es gab damals keine Widerrede wie
heute. Es wäre niemandem in den Sinn gekommen, zu fragen, obs Unsinn ist oder.
Nein, wenn das Vaterland in Gefahr ist, dann darf doch nicht gefragt werden,
das wär ja schon Verrat. Oder gar Gedanken – wie kann ich mich drücken. Wo
solche eine Auffassung durchkommt, da ist das Kostbarste vertan. Dann ist die
Idee des Vaterlandes tot... im kalten Licht des Verstandes wird alles
zweckmäßig, verächtlich und fahl. Uns war es noch vergönnt, in den unsichtbaren
Strahlen großer Gefühle zu leben. Dies Gefühl ist in uns noch lebendig. Und
wenn nicht die Familie gewesen wäre, hätte ich mich gegen die Roten in Budapest
gemeldet, die auf den kopf geschlagen.
Und
gerührt erinnert er sich an den letzten Brief der elfjährigen Friederike, die
ihm ins Feld geschrieben hatte: Wie sich Hermann ("Bübchen") freue,
weil Vater ihm aus Galizien Fasanenfedern mitbringen wird. Und daß viele
Schulfreundinnen krank seien. Sie lägen mit Scharlach und Pocken im
Epidemiespital, es gäbe schon keinen Platz mehr.
Oh
wie schön. Bahnhöfe
der
alten Monarchie/ weiche Anfahrt
z.B.
im tschechischen Laut/ böhmische Dörfer...
Büffel,
Ziegen und Schnitterlieder/ Korn und kühle
Tonkrüge.
Sensen geschultert. (Der Riese Tod!)
Tanzte
Csardas, Polka, Hora, Donauwalzer.
Ein
Kaiser mit Backenbart auf allen Briefen.
Aber
über die neuen Einrichtungen im Reich, wie man sich der Volksfeinde entledigt,
nein, da stand wenig im "Boten" und im "Tageblatt". Dieses
komische neue Wort Konzentration... wie wars nur, ja eine Konzentration wars
schon, konzentriert, konzentrierte Lösung, was denkt man sich dabei,
Konzentrationslager. Da stand nur eine kleine, aus der "Dimineata"
übersetzte Notiz über "Gespenster in die Konzentrationslager", die
Phantome einer vergangenen Zeit. jaja.
Hermann
freilich, der oben studierte und es genoß, hatte in den "Münchner Neuesten
Nachrichten" gelesen: Dienstag, 21. März 1933. Am Mittwoch wird in der
Nähe von Dachau das erste Konzentrationslager eröffnet, teilte der
kommissarische Polizeipräsident von München, Himmler, mit: Schutzhaft für alle,
die die Sicherheit des Staates gefährden und den Staatsapparat zu sehr belasten,
wenn man sie in den Gerichtsgefängnissen belasse!"
Auch
daß sieben SA-Männer, die am 1.August in Schutzhaft kamen, derart mißhandelt
wurden, daß zwei, Amuschel und Handschuck, starben, daß die Stadträte Hausmann
und Lehrburger, der Reichsbannermann Aron, ein kommunistischer Funktionär aus
Memmingen, insgesamt 50 Mann ermordet worden seien: dem ist heftig
widersprochen worden.
Alles
nur Zwischenfälle, falls überhaupt wahr; denn wo gehobelt wird, da fallen auch
Späne; der junge idealistische Polizeipräsident Himmler hat nur das Beste
gewollt, auch bekanntgegeben, daß es diese Lager gab, "ohne jede Rücksicht
auf kleinliche Bedenken und in der Überzeugung, damit ganz im Sinne der nationalen
Bevölkerung zu handeln." Gegründet wurde das Lager auf dem Gelände der
ehemaligen Pulverfabrik K. Durchgeführt von Landespolizei, SS und SA. Und seit
einigen Wochen kann man nun im Moor bei Eschenhof Gefangene arbeiten sehen;
manche marschieren mit geschultertem Spaten aus und singen: Schwarzbraun ist
die Haselnuß/ schwarzbraun bin auch ich, bin auch./ Schwarzbraun ist das Mädel
mein/ gerade so wie ich. Hollari juwi-juwi hi trallera.
Im
"Amper Boten" stand, daß die Verwaltung des KL vom Pg Gutsbesitzer
Dinkler, Gräbenzell, gekauft worden war. Die Inhaftierten seien im Dinklerhof
selbst untergebracht. Sie sollen sich in der Freizeit mit Spiel und Sport aufs
beste unterhalten. Tagsüber kann man die Schutzhäftlinge frohgemut arbeiten
sehen.
Auch
bei uns ist einiges los. Das sah man auf dem letzten Feuerwehrball hier in
Scheszbrich: Wie der Fritz Markus, dieser kleinköpfige Doktor, der Obmann ist
wohl krank – die Polonaise anführte. Und die Hautevolee, Dr. Wolff da drüben,
der Stadtpfarrer, Baurat Jacobi von der Stadtverwaltung, Dr. Seiwerth, der
Bürgermeister, alle Brudervereine der Stadt, die sind auch alle auf Seiten der
Erneuerungsbewegung, Schwarz hats in seiner Rede betont, alle Körperschaften
sind eh durchdrungen vom neuen Geist. Unser Volkskörper sei krank, sagen sie.
Vor allem diese Selbsthilfe von Fritz Fabritius ist fabelhaft. Wir sind hier im
Südosten noch nicht am Ende. Auf genossenschaftlichen Grundsätzen aufgebaute
Organisation verschafft Volksgenossen billiges Geld, Bau von Häusern, neuen
Bodenraum, Hilfe im Wirtschaftskampf.
Habs
im "Klingsor" nachgelesen: fremdes Recht und fremde Wirtschaftsweise
haben das Kostbarste, haben das Innere des Volkskörpers, die Seele, das
Rechtsempfinden krank und hohl gemacht, daß wir von Stufe zu Stufe dem Abgrund
entgegen taumeln auf unserem Schicksalsweg, Keim zu innerer schwerer Krankheit.
Beeindruckend
vor allem die Auffassungen des Hermannstädter Rechtsanwaltes und
Schriftstellers Wittstock, der ja seit dem 5. Sachsentag juridisch so
ausgezeichnete Auffassungen hat. Dieser Dr. juris hatte geschrieben:
"Es
geht darum, aus der "Volksgemeinschaft" einen "kategorischen Imperativ"
zu machen, und das heißt, die alte himmlische Forderung der Nächstenliebe und
Menschenliebe endlich irdisch im einfachsten zu erfüllen. Es geht darum, an die
Stelle der parlamentarischen Demokratie, die nie etwas anderes als Kompromisse
und politische Tauschgeschäfte zustande gebracht hat und bei der die Politik
kaum je mehr bedeutet hat als die Fortsetzung von Privatgeschäften mit anderen
Mitteln, eine ganz neue Art der Staatsleitung zu setzen, eine Staatsleitung aus
dem Volkswillen, eine Staatsleitung ohne Geschäftemacher und ohne Privilegien
und auch ohne Übergewicht der Amtsstuben und Amtsformeln über das Leben
selbst... Es geht darum, daß die Zufälligkeiten der alten Weltwirtschaft und
die unverdienten Zufälligkeiten des Besitzes von Rohstoffen ausgeglichen werden
und nicht länger zum immer frischen und immer brotlosen Kampfe zwischen den
gequälten Menschen führen."
Und
dieser Hitler wird dann das Problem lösen. Diese leidige Arbeiterfrage, diesen
Arbeitsmangel. Das wird er. Den Deutschen von Gott gesandt: Gütiges Auge,
blau.../ dunkle Stimme du.../ Und der Kinder treuster Vater,/ sieh, es steht
geschart über die Erdteile hin/ Weib und Mann in den Flammen der Seele/ heilig
vereint...
Aber
Przemysl, die Festung, hat Hindenburg doch übergeben müssen, da haben wir fast
geweint, damals im Fünfzehner.
Und
die elfjährige Friederike schrieb mir aus ihrer Puppenstube und ihrem
Puppenspiel, wo sie sich auch die andere Art von Adam und Eva ausdachte, wie
Mann und Frau das Paradies gewinnen, schrieb mir ins Feld, ich erinnere mich an
diesen herzigen Brief noch genau:
Wie
teuer wird alles werden. Zucker haben wir immer nicht, man kann überhaupt nur
noch Krustenkaffee ohne Zucker trinken, manchmal kommt es mir zu speien, so
bitter ist er. Merglertante schrieb
Großi aus Agnetheln, sie solle ihr Zucker und Petroleum kaufen. Wir könnten
froh sein, schon elektrisches Licht zu haben. – Wie kann man Hunderte von
Feinden auf einmal schießen? was machst Du immer am Abend? Wir haben die
Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß Du befreit wirst. Auch wie gut wäre es,
wenn Du zu Hause wärst, ich kann es mir überhaupt nicht mehr vorstellen, wie
das vor dem Krieg war. – Schlaf gut, unser lieber guter Tata, es grüßen und
küssen Dich vielmals Deine dich so liebenden Kinder Friederike, Erika und
Hermann, Dein kleines lustiges Bübchen. Kuß auch von der Mama. (Der Steieranzug
steht Büberle sehr gut.)
Das
Elend. War nicht das Elend beherrschend für die Frauen gewesen. Mit Fritzi
hatte ich jeden zweiten Tag Briefe gewechselt. Galizien, Saloniki bei Turba.
Und Fritzi hatte Angst wegen Rußlands Revolution. einmal schrieb sie mir: In
Rußland herrscht das Chaos.
Misch
war während der Wirren in der Ukraine gewesen, was hat er in der Ukraine
gesucht? Naja, Geschäfte hat er gemacht, sieht ihm ähnlich. Für zwei Hendl
erhielt er 200 Kronen, für eine zerrissene Hose 60 Kronen. Er war schon immer
ein Zauberer und ein Tausendsassa. Ohne Hokuspokus kein Leben, sagte er.
Goldenes Zeitalter der Sicherheit. Dauer. Gings damals zu Ende, 1918? Die
österreichische Krone. Gold. Ordnung. Aus. Alles am rechten Platz, jeder wußte,
wo er hingehörte. Zinsen genau berechenbar. Beamte und Offiziere, die den
genauen Tag der Pensionierung wissen. Schon dem Säugling legte man ein Sparbuch
an. Immer war eine kleine Reserve da für Notzeiten und Krankheit. Aus.
Bisher
hatte man solide gewirtschaftet, man ging keine Risiken ein; verbrauchte immer
nur einen geringen Teil der Einkünfte und machte Rücklagen, kaufte Grund und
haus, dachte an die Zukunft. keinen Plunder! Aus?
Doch
Kultur ist da, denkt der Alte. Musikverein Probenordnung: Montag gemischter
Chor, Dienstag Orchester Vollprobe. Pünktlich und vollzählig erscheinen!
Männergesangverein. Montag, den 13. keine Frauenprobe. Sonst gewöhnliche
Probenordnung. Mata Hari im Astra-Lino. Ein Sensationsereignis... Greta Garbo
und Ramon Novarro...
Nun
gehts in die Stadtwohnung, den Ledersitz zu holen, von Berger gefertigt. die
Albertstraße hinauf, am Eiskeller vorbei, Neue Brücke, Maria Theresia Brücke,
uralt, Holz, dann durch Hoftor Baiergasse 49, Katzenköpfe grauschimmernd, ganz
nah, rund erhoben wie eingegrabene Eier. Im Hof sägen sie schon das Winterholz.
Früh heut, früh. Wohl für das alte Fräulein Hoch, naja, die hats nötig, die mit
ihren kranken Füßen. Geruch von Öl, ohrenbetäubendes Sägegeräusch. Der Puscas.
Buna dimineata, Domnule Doctor. Muncitit, munciti.
Dada.
Kannst dich hier nur schreiend verständigen. Aber die Staatssprache, die neue,
naja, die kann ich schon leidlich.
Der
Ledersitz wird aufgesetzt, samt Decke. Nun kanns losgehn.
Am Fenster erscheint die Kranke. Fehlt. S. 176-178 Gress se
Gott, Freiln Hoch. Gress se Gott, Freiln Hoch.
Gresr,
C3tt, Herr Do!.<tr Die iLtegelähmte Junofer am Fenster. Ist sofort wieder verschwunden. Zumgotterbarm. Schüttelt die Teppiche
nie. Aber der alte Herr Zerbes eine gute
Erscheinung"@geht noch aufrecht,ohne Stock wie .ein@oldat. @etzt an der weißen Eingangstür.'
Hinter
der Tür noch eine Tür, und dann eine
ganz steile @Treppe hinauf.,Wie der'alte Herr das noch schafft" trotz
seiner fünfundsiebzig.'rüstig, rüstig.
Aber die arme Hochmit ihrer Lähmung, ein Rollstuhl müßte her, doch so
mit den zwei Krückstöcken, Zumgott.erbarm. Was für ein Kreuz. Warum schlägt Gott die einen, läßt die andern
heil und gesund an Geist und Gliedern.
Und auch sonst sind sie ja nicht mit irdischen Gütern gesegnet, wann sie
das Haus nicht hätten, wären sie schlimm dran.
Wie der arme Hellwig da, der kleine Schuster sitzt den ganzen Tag
in-seinem Loch und hämmert an den Sohlen anderer herum. Bitter arm.
Und ist doch ein'Mensch unserer Sprache!, Frau stammt ja aus dbr
Tschechei. Ihr Rock zipfelt hinten wie
ein Schwanz, immer länger. Haben auch
noch diese Rangen, vier oder iünf Kinder. Gekindsel; kugeln dauernd in der Werkstatt
herum. Höhle. Ärmliche Verhältnisseg
drei Stiegen hinunter wie in die Unterwelt.
Tageslicht an blinden S-cheiben, da ist keine Energie, um hochzukomt7en;
vielleicht schlechtes Erbgut., wer weiß. blie unser armer Hartmanng der
Pintscil unter dem Gang 4-m Hof. Dieser
wackliqe Gang. Müßte befestigt werden,
das Kind könnte hinunterfallen.
· rt wie devot der Mann istg wenn die,Tür der
Hartmanns offen stehtg riecht.% nach Kraut und Bohnen. Armeleutageruch. Und der Sohn spielt Ziehharmonika. Quäkt.*
Üf der Heide blüht
ein kleines BlÜmelein
und das heißt,
Erika, drei vier.
Takt, der
Hartmann. Ist schnelle schußAlä käme er
aus dem lig und dienstbeflissen. Hat ja was, sagt man, mit der Kraftehann. Die
mit ihren zehn Kindern. Ist etwas
unterbe-lichtet. Ungewaschen, Geruch
eingetan Wie die das alleine macht, das wissen die Götter, wer da alle.'
Katschen wäscht. Sie.natürlich. Wer den
vielen Kindern den Hintern putzt, ess-en macht.
Kaum zu glauben, - eine F@au allein, und dann auch noch zu Wohlhabenden
waschen(,'glvhn, sich für einen Tag verdingen. Na. bei uns wird 'Eri nicht waschen
müssen, jetzt hat sie zwei Mägde; viele Windeln wirds wohl geben. Großer Kessel. Kochen die Kindersachen, die
hellbraunverkackten und naßgemachten, Wie der Wind sie dann am Seil-im 'Hof in
den Himmel heben wird, leer Ginge dem
Großvater durch den Kopf 9 Ärmelchen und Beinc'hen... 0
Die
ungrisbhen Knechte für Ochsen und Pferde.
Rumänische
Mägde tränken das Vieh.
Am
tiefsten aber in unsere Erde
Bald
die Staubmehlstraße Richtung Wolkendorf.
Sonst
keine besonderen Vorkommnisse, außer daß ausgerechnet ausgerechnet an diesem
Tag der Milchmann Heuschnupfen hatte und es keine Milch gab. Panik im
Sommerhaus, wo die junge Mutter lag. Im rosa Mädchenzimmer. Oma sang eine Arie
aus dem Freischütz und legte dazu mit den Mägden Sauerkraut ein. Ein Pirol
flötete ganz unprogrammgemäß. Eichwald nah. Und Oma fielen schöne Verse ein:
Monde wechseln und Geschlechter fliehn/ ihrer Götterjugend Rosen blühn/
Wandellos im ewigen Ruin.
Mama
aber stand plötzlich an der Treppe, sagte atemlos: Ech dinken et hot ugefangen.
Awer
gang, menj Känjd, sagte die Oma, die Angst hatte vor dem Vorgang: Tea host jo
nor Bochwieh.
Ich
hörte aufmerksam lauschend durch die Bauchwand zu. Dies war altmoselfränkisch
oder ostletzeburgische – hierher verpflanzt.
Was
ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. Vater eben dreißig geworden.
Roszika,
die Szeklermagd, aber schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sie wurde los
geschickt, den Ur, den Herrn zu holen, sowie den Fiaker zum Abtransport.
Als
der Fiaker dann da war, stieg die Madonnengesichtige vorsichtig in den
Koberwagen. Pferde furzten, schnaubten, pferdeäpfelten in den kühlen Staub. ich
aber schwang mich auf, trat zu. Sie sagte: Au. Dann schwamm ich behaglich im
Fruchtwasser, im Urraum des Buchstaben Thet, nun nach neun Monaten. Überhaupt
in der Neun, die wie eine Nabelschnur aussah, zusammengewickelt und aufgerollt,
ein Flurchen.
Albert,
der Kutscher, kutschierte das Wägelchen mit dem schwarzen Regenkober vom Bock
aus in die Cornesti, dann in die Albertstraße, über die Neue Brücke – eben
katholisches Siebenuhrgebimmel, und da: sieh ein Storch mit roten Beinen,
eingezogen und groß, flog über das Gefährt hinweg, da wie eine komische Ameise
da unten voran krabbelte. Druckwehen dann schon im Fiaker heftig.
Im
roten Gassenhaus wurde die Mama vorsichtig zu Bett gebracht, der milde Hausarzt
war schon da, auch Sles, der junge Vater. Recht nervös, rückte dauernd die
Hornbrille zurecht, setzte sie ab und wieder auf, war ein langer Lulatsch,
schmal, blaß, nur im Hemd bei der Hitze, aber mit Krawatte; ohne diesen Knoten
unterm Adamsapfel gings nicht, das gab ihm Sicherheit.
Der
Sonnenuntergang dann, nach 20 Uhr, ganz normal, keine besonderen Erscheinungen,
keine Klopfzeichen, kein Mirakel. Wie jeden Abend seit einer Woche kam gegen
zehn der Komet Wipple-Jedtke, tauche auf unterhalb des Großen Wagens, nebliger
Stern 3 zwei Drittel Größe. Von da eilte er zu Beta dem Bären.
Erst
gegen Morgen setzten die schmerzhaften Preßwehen ein, als Scheszbrich mit allen
Hähnen, Ferkeln, Fiakern, Hunden, Milchmännern erwachte, hörst da eben die
Kleinbahn, wie sie den Markt hinauf stampft und ohrenzerreißend uns
rücksichtslos eins pfeift; fenster der Gasse zu, wo das Hochsche Haus steht,
offen, da bauscht sich der gelbe Vorhang, Luft; die Grünäugige atmet schwer.
Rhaij edmen. Ticken der Uhr. Läuten, Turmuhren. Glocken, Engel singen. Summen
in den Ohren. Krankhaftes Brausen aus dem Fenster, ferne Stimmen, ein
Milchwagen poltert über den Hof, klopf, Kopf-Kopfsteinpflaster. und Michael
müht sich auch ab, der schwarze Zigeunerkopf erscheint gegen acht und schreit
vor Kälte. Und dieses harte Licht wie ein spitzer Pfeil. Man nabelt ab, Schere und ratsch weg. und kalt. Das
verschlägt dir den Atem, und jedes Wort ist zuviel. Hot hie uch alle
Fanjerchen? Cha, cha, lacht der Arzt. im Steckkissen bist du wie eine Mumie
eingepackt, ja. Erdenkind.
Ich
stand auf, hatte einen neuen Schlafrock, erzählt Mutter: Und war glücklich mit
meinem Kind. das heißt, ich hab auch viel geheult, denn da hatte ich eine
Waage. Und meine Mutter sagte: diese Waage schmeiß ich zum Fenster hinaus, die macht
dich ganz nervös und verrückt. Denn es wurde gewogen vor und nach dem Trinken.
Und wenn ich dachte: Jetzt hat er gut getrunken, da kam nur ein Gramm oder zwei
mehr auf die Waage. denn man ist ja furchtbar labil im Kindbett und
überempfindlich. Und du lagst in einem bestickten Steckkissen. Großes und
kleines Molton-Tuch, Dreieck usw. Bestickt hatte das Steckkissen ein junger
Mann, der epileptisch war (Wieso?). Naja, Vögelchen und Hühnchen waren darauf.
(Das wimmelte nur so von geschädigten bei uns!) Und jeden Tag mußte ein
Mordstopf mit Windeln gewaschen und gekocht werden. Bis zu 24 Windeln am Tag
mußte die Magd waschen. In der Küche am Herd. Der erste warst ja du, spieltest
eine große Rolle in der Großfamilie. Baden, Wickeln und Füttern.
Zur
gleichen Zeit war Großvater über Land in der Staubwolke des Leiterwagens
Richtung Denndorf. Sles aber, der Vater, der Überglückliche mit seinem
Stammhalter, stand mitten im Zimmer und stammelte und bedankte sich
überschwenglich bei seiner Frau. Sie lag da mit diesem Winzigling in Weiß,
dämmerte müde dahin, aber wohlig. Sles lief die Treppe hinab auf die Gasse und
wollte Blumen holen, ein ganzes Blumengebirge. Bis zum Gärtner fuhr er mit
einem Fiaker. Zu Eder. War liebevoll besorgt, fragte, wie es ihr gehe: Hast du
noch Schmerzen, Eri? Sie hört ihn heute
noch dies fragen!
Dann
aber wars Zeit für Sles, den langen Lulatsch, ins Geschäft, in die
Schnittwarenhandlung zu gehen, die seinem Vater gehörte und wo er Prokurist
war.
Auf
dem Weg sah Sles in Kwieschinskys Kolonialwarenhandlung Orangen, Feigen,
Pampelmusen... dies Frische und von weither Gekommene.
Werds später mal brauchen für Mutter und Kind. Havanna Zi.-aril@@ Hoffentlich wird er
kein Raucher . Kannst ja bei uns all'-es bestellen, die ganze Welt ist
offen. Driiben der Dror-erie Lingner
sogar französisches Parfüm. Für
Eri. Schmuck? Er hastete an Kino vorbei. Im Astra-Eino: "Die Nacht der großen
Liebe" von Bolivari, Samstag, Sonntag.
Heute aber, Mittwoch und auch Donnerstag "Quick" mit Lilian
Harvey. Wann wird sie wieder ins Kino
können. Marisch kann ja solange beim
Kind wachen. Unsinn. Was fällt dir ein. Und da das Plakat: Am 24, der '2homanerchor
aus Leipzig. Die musica. liebst
sie. Erhebend.'Das Schwere geht
auf. Festlicle Abendmusik in der Klosterkirche. Wie vor einigen Jahren, na, wie lang ists
jetzt schon her: fünf Jahre bald, in der Thomaskirche zu Leipzig. Wir werdn alt. Wo der Werner wohl jetzt ist? Läßt nichts mehr von sich hören. Dachte mal daran, zu uns'zu kommen:
Emigration, sagte er. Na, da sieht er, was er von seinen roten
Ansichten hat, hab ihn immer gewarnt, kommt doch aus gutem Hause. Was Vater sagen würde, wenn ich mit so einem
Freund da ankäme, Aber freilich, aufgenommen hätt ich ihn schon. Wenn einer in Not ist, sogar eir»Gegner. Was heißt@el@Gegner, Feind sogar. Ach, diese blöde Politik. Garstig Lied, steht -ja schon im Faust. Hier wär er noch sicher gewesen, der
Werner. Sie haben '- unsere
Nationalsozi.,',listen vor kurzem verhaftet und Haussuchuno- sogar bei Andreas,
dem Heißsporn, oben auf der Marktzeil@ r-.@emacht. Na da waren aber die beiden
SchöngeisterrDariel und Tante Cäcilie entsetzt", ... sehe große Märkte...
Bunt- Sehe Käufer und Ver käufer Männer und Frauen in Stollen nachgefragt wirdt
enge botenlillarktschreiür preiben an, 1
Hausfrauen prüfen
am Stand kaufen Früchte häufen sich,Natur zu Berge, bunte Tücher aus dem
brientathen oder Keränth sagttnir eine Stimme:
Tempel
Sagdad oder
Karthage(, Babylon,Tyrus oder Heliopolis
auch im
Dionysos
SP richt und und auf den Straßen 600 die Liebe,
Slegt
lacht innerlich wendet den kleinen Kopf taucht.4. Aha denkt
gin@ 'Samtjackigen
mit großen MadonnenaugefY/die ihm winkt, aha: Da haben wirs ja, auch hier
scheint die Nachfrage abzunehmen, Inflationg nur zehn Gäste und vierzig
Mädchenp darunter Südländerinnen und drübe diese ap,;ettitliche schlanke
Schwarzee Also mit raffinierter Reklame
das
Überangebot an den Mann gebracht werden*** Und wenns
soll
nach der Großen Hure
aller Überweltlichkeit gehtg br6ngt die große
Katastrophe auch den
seelischen Haushalt in Unordnung.Chäosg Schmerz
Alles zersetzen die Juden, das GROSGE GELD. Gold anstatt Blut."
Sich nicht
verlocken lassen, nein. Sitte nur
hereinspakiert, die
Herrschaften! Auch die hier werden verkauft, schöü-e
Reklame. Und bei
Tiez
die Schaufenster MeineSpeiialität,
die Schauf elter
werd
sie heute wieder mal vornehmen, der Latzt. wird die Puppen bringeng nackt, aber
leicht umwickelt mit Tüchern, das schickt sich hier in unserem Kaff nicht,
nein', nicht mal Schaufe&6terpruppe@ll Orwohl doch geschlechtslos, die brauchen
-,ein Feigenblatt. Und doch und doch,
wenn die mal angezogen, dann sind sie wie wir auch,-wichtig/Boch nur dee
Kleider.
@d in da
Vater
immer wieder gesagt, der Professor lehrte es, ja Modewaren sind geheime
Beziehungen w@ischen den Menschen halten das Leben in Schwung sozusagen. Sei Tiez, aber auch auf der Straße in
Leipzig,war das ein Gedränge, das können die hier sich kaum vorstelleng@da
s"perrst'. du das Maul auf. Überall Kfaider, Mäntel, Hüte, Schirme, zwei
Anzüge im Gespräch, englischer Kammgarn, feinste Marke, da hab ich einAUge
dafür. Zuei Hüte: m abe die Ehre! Geheimnis des Lebens:und Kleider machen
Leute# Aber der Junge soll Arzt werden oder Rechtsanwalt da werd ich darauf
bestehen. Oder bei Wertheim in Berlin
Kaufhaus Wertheim, habs mir mal angesehn.
Uberhaupt Berlin! Wär da gern
noch geblieben, Reichshauptstadt.
Wertheim, König der Basare:
Und
Modewaren, das-hab ich auch
Wandelst zwischen zartem Email mit japanischen Goldblumen
durch den Erfrischungsraum (im Kaufhaus Wertheim.
Diese Juden!
Feurige Tropfen in Kreisel-$ Fächei-und Rin-form
Glühbirnenrank-en;und
auf Metallflächen unter leuchtenden Fontänen und über die Kanten der erznen
Balken streuen @ausend Reflexe aus; unter einer altfrä@ischen Hol@,decke. Darunter drehen sich Damenhüte, die
Damen-Köpfe daneben, die niemand beachtet, es geht um die Yiütg hier und dort um
die Hüte, der ganze Spektakel ihretwegen: Museum des--überströmend Fertigen, im
Moment verhaftet., damals, ais wärs ein illuminier'ter @fald
der Dinge und
l@ffiützen unpersönlich, dieser
Abendg,
ewig schön und
wunderbar, jeder Betrachter aber glaubt, er sei mit ihm allein.
Ließ @ich mit der
Menge durchs Kaufhaus schieben. So wi e
Sonntagsausflügler
die "Landschaft" ansch
ßör;nalb, ent-
äu4 au
zückt,
nicht dazugehörend, anders als der Bauer zuhaus bei
uns:
der schönen CTegerid Ear-t
arbeiten muß, Hand
anlegt
oder der Holzfäller. -wdanlegen.
Komm! @ltedie Mark in der Brieftasche./v-ater könnte den
Wechsel erhöhni Unwillkürlich - Rßiz, doch daran teilnehmen
zu können, falls
bei Kasse: das prickelt.
Aber die-3 klappt
nun nicht mehr so4 Es sei etwas
Neues im
Entstehn,
sag@ auch der
Prof LiAwsky,
Ja-I@
Luxus,
Reiz, Gier ist zu meiden, es schafft Rui--n, Abhängigkei': Nur ja keinen
Plunder. Sparsam und ehrlich, auch das
Ausschweifende meiden, nicht wie ich in Leipzig damals in dieser Schlupfbude,
kein liederliches Leben, das sind wir unserem Volk schuldi,7: Askese im Kontor,
dazu Tab@", Kaffee, 'Lnee, H,@a.
Aber Vater war doch auch bei dieser Ilona in Bistritz und dann in
Krons@uadt. Wir sind doch keine
Heili-en.
jK-,@ Anpassen m-Uissen wir uns
schon. Wichti,7, sind die
Schaufenster. Heute haben wir vor allem
1.Iarkennamen und Verpackundie werden ja so verk3,uft. Absatz ist noch mehr als bisher das
Zauberwort nach der -"@,leltwirtschaftskrise. Reklametechnik, habs@ ja als
1\Iebenfach! Wichtigste Techr-il-,
heut. Versprechen von Gl-Uck, wir glauben
es! Im alten Sinn gibts keinen Kaufmann
mehr - sagt auch der Prof. Ljsowsky,
@leinun@sger,@-egstände seiten die Dinge inzwischen. l@leinungsvegenst@dnde. Die Ware, pulverisiert i'n -mpfindungen, löst
sich auf in Gefühle, du schmeckst dann den Namen, Kooiiior oder
sonstwas: schon schmeckst du e s auf
der Zunge. Als wollte wirl.,lich der
Welt@,eist, angekommen am Ziel, alles abstrakt und ideell verwandeln Und du
kaufst und kaufst und kaufs'(-" und alles@chmeck'(I dann nach nichts, der
Süchtige, Verführte: wie Tantalus in der Unterwelt: trinkt und trin'-"..t,
und ew wird doch nie -elöscht, der alte Durst.
entlassen
wo sie HALTUNG WAHREN müssen. Jetzt
sollten in wenig die Väter unserer Väter und Mütter sein, jetzt, wenn sie in
Rente gehen, zuerst mir Angst, mit einem Gefühl des SichvWeigerns , dann nehmen
sie es still an, und merken, wie schön es ist: kindlich zu sein. Uns nichts mehr vormachen zu müssen, was sie
nicht sind und nie waren: Wir führten die Befehle wider Willen aus in der Kette
der Geschle chter, wie Vater vorsichtig sagte, als ich ihn danach fragte,
weshalb er mich eigentlich geschlagen , seine Kinder geprügelt hätte, Und nach
dem ersten ertta-inten: Ich?! kam dann das: Nein, gewollt hab ich es von mir
aus nie! Ge @ ngen hab ich mich dazu. Denn: Wer sein Kind liebt, der züchtigt
es!
Bullenhitze.
Ein Regen wäre gut. Das Sommerhaus. Wir haben gebaut. der Marktplatz. Die
Katzenköpfe. Ein paar Szeklerwägen vom letzten Markt. Roßäpfel. Hab ich das
Rezept? geh ich zuerst zur Drogerie? Noch eine Stunde Zeit. Nein, die
Medikamente sind wichtiger. Türklingel. Guten Abend. Chloroformgeruch. Weiße
Töpfe mit lateinischen Aufschriften ringsum. Nehm auch Pfefferminzbonbons, mag
sie. Hustensirup. dann die mandelseife von Ligner gegenüber.
Wird
der Junge mal Inhaber werden? Kaufmann oder Arzt? Arbeiter? Ach geh. Bauer? Unsinn.
Was
sich gehört in unsern Kreisen. Stammhalter. Wächst und gedeiht. Wichtig:
Gradgewachsen und gesund. Deutsch soll er bleiben, so Gott uns beisteht. Mer
wälle bleiwen wat mer senj!
Die
Vorfahren meiner Mutter: die Wagner kommen aus Böhmen. und waren ungarischer
Kleinadel: de Kerekes de Kerekes de Kerekes, Wagner auf Ungarisch.
Komisch,
dreimal "von", die konnten nicht genug davon bekommen.
Ja,
und Mutter war auch recht stolz. Sie hat sich leider immer für was Besseres
gehalten, unsere Mitz-Mother, hat auf die "Bürgerlichen" herabgesehen.
Und
hat auch den armen Franzonkel und die arme Marietant, die Geschwister des
S.-Großvaters, schnapode behandelt; der Franzonkel sein "surkig", die
Marietante stinke, sagte sie.
"In
zarte Frauenhände" und das Benimm-Buch "Umgang mit Adligen" und
"Beim Baron zu Tisch" im Bücherschrank.
Zur
Hochzeit eine schöne Bernsteinbrosche. Die ehe wie unsere Gemeinschaft:
ehrwürdiger Staub, hatte unser Freund Hensel gesagt, der Professor Doktor: da
darf nichts einbrechen, nie. Das Chaos nicht. und seis nur ein Insekt, etwas
winzig Kleines, das bleibt, fortdauert im rastlosen Getöse des Tages, im Gerede,
in dem sie untergehn, unsere Tage. Hier aber klopft das Ewige im Stein.
Begutachtete die Brosche, Bernstein mit Insekt, transparenter Insektenflügel,
in diesem Abgrund haust das Ewige, hier höre ich das stille Rauschen des
Göttlichen. Hier siehst du die Unverletzlichkeit aller Einrichtungen, das
Ordnungsgemäße der Lebenserscheinung. Alles, was Gesundheit und Beständigkeit
sichert, ist heilig, wie unser Boden hier, die Häuser, überkommen von den
Vorvätern, oder die Ringe, die Stadtmauern, die Türme, wie ergraute Seelen. Ja:
Alles, was sie gefährdet, ist frevelhaft, eine Sünde wider Gottes Willen, jede
Veränderung, die Zeit ist das Maßlose, gegen IHN aufgestanden... So hielt Prof.
Hensel uns und seiner Frau Ficca, die auch Grethe hieß, einen kleinen Vortrag,
sagte noch etwas vom aufbewahrten tiefergrauten Staub, der allerdings
entropisch dem Nichts zueile: unweigerlich. Und da war ich entsetzt: das hatte
auch der gescheite Melas, der Übergeschnappte, mal gesagt: Mitten drin im
Ewigen fühlen wir das schmerzhell Vergebliche...
Die
melodische Uhr vom Turm schlug...
So
stand es auch im "Großkokler Boten" zum Tage der Machtergreifung
Hitlers: Revolution ist Sünde wider die Weltordnung. Jubel, daß wieder alles in
Ordnung ist, daß Babel und Völkerchaos, Verjudung usw. aufhören. D.h. JEDEM DAS
SEINE. Die Volksgemeinschaft wieder hergestellt. Der Knecht wieder Knecht. Der
Herr wieder Herr.
Ewige
Ordnung ist das Naturgesetz ewiger Leistungshierarchie. Alle sollten daran
teilhaben. Nordisch sind die Träger der Herrschaft: Offiziere, Beamte, Lehrer,
Polizisten. Händler und Kaufleute dagegen sollen nur ostisch oder fälisch sein.
da bin ich dagegen. Richtig aber ist: Der Herr steht über dem Knecht – das ist
Naturgesetz, genau wie ihre natürliche Trennung schon fixiert ist in Blut und
Stammbaum. Daher die Könige. Jede Vermischung ist wider die Natur. Und wie
sagte Hensel, auch mein Schwiegervater sagt es: Blut ist wichtiger als Gold!
Verwackelte,
im Gelbton verschwimmende Geisterfotos: Mutter im Dirndl, Vater im weißen Hemd
mit Krawatte; immer diese Krawatte; einen Staubweg zwischen großen Wiesenblumen
entlang gehend, mit Freunden. Er in schwarzen Trachtenstiefeln, später dienten
diese Stiefel bei der Feuerwehr und in der DM, der Deutschen Mannschaft –
Fallschirmjäger sollten sie bekämpfen. Also entlang gehend einen Staubweg, an
wiesen vorbei, Kornblumen, Mohn, Margeriten, oder auf einer Staubstraße stehend,
einige Ausflügler auf Lastwagen, andere wieder rauchend und redend auf einer
staubigen Landstraße. Wenn es regnete, platzten Sternchen im Staubmehl. An
großen Wiesenblumen entlang gehend, unter Regenschirmen, laufend, sie im
Dirndl, er im weißen Hemd mit Krawatte, immer trug er Krawatte, als hätte sie
ihm Halt geben können, mehr noch vielleicht gaben die hohen Schaftstiefel Halt.
Zwischen großen Margeriten stehen sie, der Geruch von Waldluft kommt mit einem
östlichen Wind von der Breite, Hochplateau, tausendjährige Eichen.
Oder
ein Faschingsfoto: Sie mit Rob, Vaters glattes schmales Gesicht ist ihnen
zugewandt, melancholisch schaut er zu ihnen hinüber. Und es hängt über ihnen
ein großes Bild, ein Kornfeld, roter Mohn, die Jesusjünger, Evangelisten, der
Heiland einem Gewitter zugehend. Friederike sitzt am Boden des Fotos, nicht des
Wandbildes, das im Foto hängt.
Friederike
frech rauchend beim Fasching. Sie hat ein Kleid jener Endzwanziger an, hockt
auf dem Boden unter dem großen Bild mit Jesus und den 12 Aposteln in Korn und
rotem Mohn. Georg ist noch nicht dabei, damals hatte sie noch ihr Leipziger
Liebchen, mit dem sie zehn Jahre lang Briefe wechselte. Aber der Heimat treu
und dem Vater, blieb sie im Lande, hatte zusätzlich noch angst vor der Fremde
und der großen Stadt im Reich. Hinaus durften nur die Männer. aber es rumorte
in ihr, ein dauerhafter Schaden blieb zurück. Schaden auch der langen "Anständigkeit",
der lebenslangen, der sauer gewordenen, bis zum Tode, bis in den wuchernden
Körper hinein, seit sie Abschied genommen hatte von ihrer verzauberten Seele,
die keinen Leib haben durfte. Über ihren Vater und über ihre Hochzeit mit Georg
schrieb sie an ihren Lieblingsbruder, den sie Tallo nannte, hinauf nach
Berlin/Charlottenburg, wo er Hoch- und Tiefbau studierte im ersten Semester,
aber den Sommer über da war, und auch den neuen stählenden Arbeitsdienst nicht
versäumte, schrieb also einen Brief voller Sarkasmus auch über sich selbst nach
Berlin.
Doch
gabs Tanz auch im Sommer: Mulatschak, Murri nannten sie die Partys, legten sich
unter die Bäume, Sles und Georg, Friederikes Verlobter, schüttelten zuerst
Äpfel, die süßen Goldparmäng, Birnen, blaue Pflaumen. und lachten. Oben am
Himmel stand fahl der Mond und der Große Wagen. Wildes Gezwitscher der Vögel
war zu hören. Sie lagen im Tau, in den Wiesenblumen, müde, angeschwipst und
jung, Sles und Georg (Georg verhungerte in Rußland).
Die
Jahre vergingen damals langsamer als heute. Doch langsam kam das entscheidende
große Jahr 1940 heran. Und lauter Hochzeiten. Auch Hermann und Iren hatten in
jenem großen Jahr geheiratet; oben im Reich allerdings. Es gibt ein Foto mit
Iren, sie sitzt auf dem gelben Ruhebett im Baumgarten unter dem Nußbaum neben
Michael, und sie spielen Lotto, ein Geburtstagsgeschenk.
Iren
war damals mit ihrem Vater zum Hochzeiten ins Reich gefahren. Schon am ersten
Tag kamen sie durch München. Dort hatten sie Gelegenheit, ihren Bruder Edwin zu
besuchen. Edwin hatte Dienst in Dachau, höre ich Irens Stimme: Ich kam mit meinem
Vater nach Dachau. Wir sahen erstaunt die Anlagen. Und mußten lange in einem
kümmerlichen Besucherstübchen warten, bis Edwin endlich kam. er war unruhig und
nervös; wir spürten die ungute Atmosphäre. Mein Bruder ist ja von Kindheit an
sehr nervös, vielleicht weil meine Mutter so stark war, zu stark. Im Grunde war
er schon als Kind schwierig, mein Bruder. Naja. und dann hat er eigentlich gar
nichts erzählt. es war ein zeitlich begrenztes Wiedersehen, wie das so ist: Er
hatte sich vom Dienst für diese Besuchsstunde freimachen können, ich weiß
nichts, wars eine halbe oder eine ganze Stunde, er stand unter Zeitdruck. Und
wir wollten uns später nochmals treffen, aber es kam nicht mehr dazu. Mein
Vater hat so in seiner naiven Art gefragt: Was ist denn eigentlich hier los?
Was sind das für Leute in den gestreiften Anzügen, und was wird mit denen
gemacht? Und da hat mein Bruder gesagt, ja, also: Ziemlich schrecklich, was man
mit denen macht. Die müssen von einem Ende des Lagers auf Schubkarren schwere
Steine fahren, meist aber auch einfach schleppen, von einem Ende des Lagers bis
zum andern Ende, und am nächsten Tag wieder zurück. So etwa. Bekommen nicht
sehr viel zu essen. Und diese Arbeit ist so sinnlos, saublöd. Saublöd hat er
natürlich nicht gesagt, er hat sich ja sehr zurückgehalten. Vielleicht hat er
auch Angst gehabt, daß die Wände Ohren haben.
Iren
studierte damals an der Münchner Kunstakademie. Sie erzählte: Aber mein Freund
Ferdl, der ein Gegner des Regimes war, aus einer Überzeugung, die wir damals
nicht nachvollziehen konnten, Ferdl wußte, daß man nachts in der Dachauer Umgebung
Schmerzensschreie hören konnte. Wir waren ja richtige tumbe Toren, wir
Siebenbürger, das kann man wirklich sagen: so kam ich mir vor neben diesen
Kollegen und Kolleginnen, die schon ein bißchen weiter gedacht hatten. Gehört
das nicht auch zur Voraussetzung dafür, daß dann jeder zehnte Siebenbürger
SS-Mann wurde, eingesetzt mit vorbedacht in den Lagern?
Und
„unten“, wie war das „unten“ damals 1939?
Friederike
an ihrem kleinen Tisch mit Blick auf den Tannenwald, schrieb an Tallo nach
Berlin, Englische Straße 1, links. Weihnachten näherte sich, stand vor der Tür.
Tannen auch vor dem Fenster, oh, es duftete, Nadeln allüberall. Die Ami im
Schlafzimmer hatte das Nähkästchen auf dem Schoß, nähte, flickte und sang:
Weißt du wieviel Sternlein stehen, an dem blauen Himmelszelt … Gott der Herr
hat sie gezählet … Da zittert etwas Fernes in diesem Lied, Amis Stimme ist
traurig, sehnsüchtig und lieb zugleich. Und drüben sitzt Friederike und
schreibt. Sie sitzt in der ehemaligen Räuberhöhle
von Tata, der nun Otata heißt, weil er drei Enkel hat. Friederikes Blick geht
über den mit Katzenköpfen gepflasterten Hof, über dem Hof ein Stück
dunkelblauschwarzer Himmel, alte Ziegelkdächer, funkelnde Sterne in der
beginnenden Winternacht. Draußen auf dem wackligen Gang hört man Georgs Schritt, der aus dem Werk, dem Elektrizitätserk, wo er Beamter ist, nach Hause
kommt, die Tür öffnet und einen frischen Duft von Kälte reinbringt.
„Nun
bin ich schon vier Tage eine sehr glückliche, vergnügte junge Frau.“ Schreibt
Friederike nach Berlin: Wo die Fässer mit Prudner Wein standen, ein großer Wäschekorb, steht jetzt
Georgs weißer Schreibtisch, an dem ich sitze. Die Wände blaßgrün mit einem ganz
losen Blütenmuster… Hier aber in der ehemaligen Kammer sind Mäuse aufgetaucht.
Mich schauderts. Dabei gibt es gar keine weißen Mäuse, nur weiße Ratten. Es
sind die überstrapazierten Nerven…Stell dir vor diese Ratten, die könnte im
Schopfen oder im Keller unter dem
Gassenhaus, wo jetzt die Juden Baruch wohnen, dann eklig gedeihen; stell
dir vor, du gehst Äpfel holen aus dem Apfelkeller von den Hurten, wo Batull und
Goldparmäng lagern, die schönsten sind für Weihachten, für den Baum und mit
Wachs eingerieben, ja, und da springt dir eine große weiße Ratte ins Gesicht
oder gar auf den Bauch, an die Beine, beißt zu, weh soll das tun, puh, du weißt
ja , wie mich ein fast übernatürlicher Schrecken gepackt hatte, als im Schopfen
unter den alten Weltkriegsillustrierten und den Feldpostbriefen eine Staubwolke
aufstieg – ein ganzes Mäusenest mit kleinen quicksenden Mäuschen von Tata
aufgestöbert wurde beim Ordnungmachen. Ich hab da geschrien, bin fast in
Ohnmacht gefallen, und hab schlecht geträumt. Übrigens, nun hat Tata in seiner Räuberhöhle hier nebenan
aufgeräumt, es herrscht beispielhafte Ordnung. Aber jetzt ist ja sein Instrumentenschrank
im Vorzimmer. Es stinkt dort schrecklich nach seinen Tierarztmedikamenten. Nun bin ich neugierig, ob er diesen Winter
die Instrumente, die nur verpackt wurden, überhaupt einräumt. (Aber schweig.
Diesbezüglich bitte keine Bemerkung. Du weißt, wie empfindlich er ist. Und er
könnte einen seiner jähzornigen Wutausbrüche bekommen. Bitte, lieber Tschudi,
bitte, nicht!“
1939/40.
Lauter Hochzeiten. Wie war das damals mit der armen Friederike gewesen?
Ja,
sagte Mama, auch bei ihrer Hochzeit standen die Schnichs an der Kirchentür,
nahmen den Trauschein ab und nickten: Schnich! Doch es gab einen seltsamen Zwischenfall
bei Friderikes Hochzeit in der Kirche. Die Sopranistin Blaschek samt
Frauenkirchenchor schrien plötzlich entsetzt auf, kein Gesang, Gestotter,
Dissonanzen, abrupt riß auch Daniels Orgelspiel ab, eine Kirchenmaus war aus
den Orgelpfeifen gesprungen, jagte über Daniels Klavieturen und den Sängerinnen
zwischen die Beine. Fast hätte auch Friederike vor dem Altar auch geschrieen.
Und im Baumgarten gabs Fledermäuse, die schwirrten im Rauchfang. Angst hatten
wir alle, die könnten sich im Haar verfangen, gar in die Scheide glitschen.
Innen
– aber die feuchte Stelle? Alle mühsam beherrscht, sonst hätte es doch das Chaos gegeben, die totale Auflösung.
Ja,
da muße man schon aufpassen. Das Schmutzige. Liederliche… jeder mußte sich
zusammenreißn, sich nicht gehen lassen!
Ich
weiß, ich weiß, Mama, damals, 1940, stand es in unserem „Großkokler Boten“; ich
habs nachgelesen, da gabs eine Heiratsgenehmigung für die „Einsatzstaffel“, nur
gesundens, reines Blut…
Alle waren sie in der Einsatzstaffel, Vater,
und Georg der Bräutigam auch. DM, hieß das. Deutsche Mannschaft… nichtwahr. Es
hieß damals, daß nicht der Geldbeutel entscheident ist oder die Konfession,
sondern die Sippe, auch die des Mädels, der Blutstrom , der sie trägt…
Ziemlich
abstrus. Was willst du, so waren damals die Zeiten!
Ich
habe im Schopfen einen Stoß Familienbriefe gefunden. Und auch einen Brief der
armen Friederike. Nach der Hochzeit beschrieb sie Tallo, ihrem Bruder, der in
Berlin-Charlottenburg Hoch- und Tiefbau studierte. ihre neue Wohnung: „Die
Tapeten sind oranglich-rosa wie die
Blüten. Die Vorhänge im Wohnzimmer und die Möbelüberzüge in einem matten Grün.
Im Schlafzimmer zitronengelbe Vorhänge. Es ist entzückend. Doch wenn ich an die
Rechnungen denke, wird mir ein wenig bang. Ich habe es früher sehr schwer
gehabt, nun ist alles abgefallen … Doch es sind sehr schwere Zeiten.“ Eri (das
ist meine Mutter) „klagt über Rückenschmeren, die drei Rangen (das bin ich und
meine Gecshwister) rauben ihr den Lebensnerv, solch ein Radau täglich, sie kann
es nicht mehr aushalten. Die zarte Eri wirtschaftet in der großen gekachelten Küche, im Garten, und nebenan
lärmt die Löwische Tuchfabrik den ganzen Tag, immer das gleiche Geräusch, als
wären Drachen in der Luft, die mit eisenbeschlagenen Zähnen klappern. Ami möchte, die Eri solle endlich mal ins
Sanatorium zu Dr. Müller, es ist ja ganz nah, nur über die Neue Brücke. Und sie
soll unbedingt ein Kindermädel nehmen, zusätzlich zu Marischka, der Dienstmagd.
Eri hat sie dann auch genommen, diese Magd aus dem nahen Szeklerland, Rosika
mit einem heftigen Liebsschmerz im Leib. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt!
Ungarische
Dienstmädchen, die meschelten, Eri hatte ja zwei Marisch und Rosika. Die kamen
am Sonntag in ihrer Tracht mit den Burschen zusammen, schmusten und mehr. Und
eines Tages heulte die eine, und auf die Frage, was denn sei, hieß es: A
djermek schiert! (Ds Kind hat geweint!) Es stellte sich heraus, daß Rosika ihr
Kind erstickt und auf den Mist geworfen hatte. Höllenqualen. Kurt befahl: Keine
Polizei. Und der Doktor Piz Markus stellte einen Totenschein für das Würmchen
aus und die arme Sau kam davon!“
Ich
erinnere mich an die Klavierstunden bei Onkel Daniel. Der Organist sah mich mit
nach innen gewendeten, wasserhellen Augen aus der runden randlosen Brille an,
der Blick kam sanft, aus einer unendlichen Ferne, Energie und Versunkenheit,
das Nervöse, Leichtauffahrende, vor dem man Angst hatte, paarte sich mit einem
unerschöpflichen Enthusiasmus.
Im
etwas düsteren Raum war eine merkwürdige harmonische Disziplin, wenn er mit der
feinen, wie panierten Stimme, die etwas belegt klang, den Takt gab; da er
soviel schwarzen Kaffee trank und dünne Virginia Zigaretten raucht, von deren
Duft das Übungszimmer erfüllt war und etwas von fernen Ländern und Welt spüren
ließ, war das Eins-zwei-drei oder Drei-vier zur Czerny-Etüde, das wie ein Ritus
klang, streng aber auch weich zugleich.
Sein
Vater Daniel, so Andreas, habe den Substanzunterschied zwischen Liberalismus
und Nationalsozialismus nicht gesehen: Es handelte sich nämlich gar nicht um
einen Anschauungsgegensatz, sondern um einen Erlebnisgegensatz, eine Bewegung,
aus der sehr realen Not des Volkes selbst geboren, eine Scheidung zwischen
einer bürgerlichen absterbenden Menschenschicht und der deutschen Zukunft.
Es
gab auch Streit zwischen Daniel und dem K.-Großvater, z.B. kurz vor Friederikes
Hochzeit. Aber am Ende waren dann alle nichtigen und garstigen
Familiendifferenzen vergessen. Tante
Cäcilie und auch Emmatante gingen ein und aus, hantierten mit Mordsgeschnäpper
in der Küche. Friederike wurde "mit Liebe übergossen", wie sie in
ihrem Brief nach Berlin schrieb: "Und es kam mir so recht zum Bewußtsein,
wie schön es ist, wenn man nur die Gemüts- und Herzensseiten erklingen läßt.
Sogar Onkel Daniel ist dann nicht mehr empfindlich..."
Sieh,
da streckt Roszika, die Kinderfrau, ihren Schopf zum Fenster hinaus in den Duft
des großen Gartens. Zu sehn sind im Frühjahr von oben: Die Blumenbeete mit
violetten Spitzbuben, wie große Maulbeeren, dann Narzissen, Primeln, Pfingstrosen
bis hinab in die Gartentiefe. Unter den hohen Tannen mit dem Steintisch gibt’s
ein Geheimnis. Eine geriffelte Kaffeetasse steht noch vergessen da; sie bleibt
in deinem Gedächtnis stehen bis auf den heutigen Tag. An Spargelbeeten gehst du
vorbei bis zum Steintisch; Spitzen der Spargel, auch sie geriffelt, violett
stoßen sie aus der duftenden Erde hervor, kommen aus der Tiefe; unendlich ist
der Weg an den Gerüchen entlang.
Jetzt
ist Winter. Die Seele mit Schnee bedeckt. Weißes Kleid. Leichentuch. Die Frauen
weinen.
Und
abends sitzt Roszi am Bett. Und Roszi erzählt, wenn die eltern nicht da sind,
wenn sie im Kino sind; "Triumph des Willens" sehen sie gerade. Wenn
du Angst hast, wenn in den Ecken die Schatten größer werden, wenn die Möbel
knarren und die Violine auf dem Schrank leise klirrt in ihrem schwarzen Kasten,
wie ein heimlich singendes Untier – ist Roszi da; es klirrt bei der
Erschütterung, wenn draußen ein Wagen oder Auto vorbeifährt, die Albertstraße
hinab zur Stadt hinaus; Räder rasseln unter dem Fenster (manchmal Tanks). Oben
am Kirchturm schlägt eine Uhr; Glocken läuten noch spät, dann sitzt Roszi im
roten Rock mit schwarzen Streifen und schwarzer Bluse am Bett: Wot ezer hotj
näm wot etj Kiraj... Es war einmal, wie es niemals war, es war ein König... Und
es war einmal, wie es niemals war, ein Ungeheuer im tiefen Wald. sieben Mädchen
und sieben Burschen verlangte es jedes Jahr, sieben jedes Jahr. Immer wurden
die Schönsten des ganzen Landes gerettet, Roszi rettete sie. Die Angst spannte
sie auf wie schwarze Wolken und nahm sie dann wieder fort. Und hell schien die
sonne. Niemals war da einer rettungslos verloren bei Roszika. Nach jedem
Schrecken der endlosen Nacht kam die Frühe, die Allerherrgottsfrühe mit Kühle
und leuchtender Morgensonne über den Garten, über die Beete, in den Blumen war
immer der frische Tau; und durchs Gras konnte man laufen – mit nackten Füßen.
Der
kleine Mächel ist verschwunden. Mächel ist nicht zu finden. Roszi weint und klagt, wie man nur in den Szekler-Dörfern klagt: laut schreiend,
sich die Haare raufend, als Mächel nach stundenlangem Suchen verschwunden
blieb; im nahen Fluß ertrunken – so dachten sie, so hatten die Nachbarn
geflüstert.
Mächel
aber hörte es, freute sich an der Trauer, wie sie alle um seinen Schatten liefen.
(Ech hu gehiert, datt er mich gesackt hut, sagt er nachher.) Alles um ihn, er,
versteckt bei den winzigen Küken im Hühnerhof, den gelben federweichen
Bällchen, im Nest die frischen Eier. Zwischen den Nesseln mit Gritt, dem
Lausemädchen, wie Mama sagte, geduckt, mit der Nase im Mist, mit Flaumfederchen
im Haar. Braune, gesprenkelte, weiße Flaumfederchen: Roszika holt die Eier,
faßt der Henne unter den Bauch.
Doch
die Fotos... auch von Roszika gibt es ein Foto. Es gibt auch ein Foto von
Roszi, Mutter und mir. Es ist wie ein Traumfoto – komisch, dieses Foto oder was
darauf zu sehen ist, habe ich einige Male geträumt: Mutter steht am Hoftor
neben dem Baruchhaus, hat eine merkwürdige Tellermütze schief auf, irgendwie
gebirgsjägerähnlich; ich laufe mit froh erhobenen Armen auf Roszi zu, die im
Vordergrund des Fotos steht. Sie hat eine grobe Wolljacke an, ihren roten
Szeklerrock, Sandalen, lacht lustig, fast so lustig wie ich, und breitet die
Arme aus, um mich dort einzulassen, in die Arme zu nehmen, ich laufe da in
vollem Schwung rein, bin unterwegs, immer noch unterwegs auf jenem Foto, wo
Mama am Tor steht, bereit auszugehen, mich an der Hand zu nehmen... ich aber
laufe auf Roszika zu. Warum?
Wir
gingen ja jetzt in die Stadt einkaufen oder um uns zu zeigen, war ja auch schön
angezogen, Tirolerhosen. Als erstes kam uns die Fikkatante entgegen, ich
murmelte nur verschämt: "Sgett, Sgett". Mama wurde wütend, komm sag
doch wie ein echter deutscher Junge: Heil Hitler, reiß den Arm hoch... so! Noch
wütender wurde sie in der Baiergasse, wenn wir dem "Führer"
begegneten, unserem Essigfabrikanten, und ich nicht das Ärmchen hochriß.
Dabei
hatte der Ortsgruppenleiter nichts Strammes, er hinkte, zog einen Fuß nach und
war nur Philosoph, wie Mama sagte. Daniel aber spottete, da sei doch ein
"rausschauender Pferdefuß", und ich meinte damals, es seien die Gäule
des Honnesbatschi aus Pruden, der immer den Wein brachte. Dann klärte mich
Daniel auf, das war in der Klavierstunde während des Etüdenspielens und beim
Ticken des Metronoms, da sagte er, daß der Teufel einen Menschen- und einen
Pferdefuß habe, woran man ihn erkenne. Vielleicht sei der Essigfabrikant, unser
Ortsgruppenleiter, der Philosoph, deshalb so höflich, damit man über seinen
hinkenden Pferdefüß hinwegsehe. Es sei fast wie eine Bitte und er brülle auch
nie qie sein Vetter, der andere ausm Reich.
Mama
aber sagte, es sei nicht schön, über die körperlichen Gebrechen anderer zu
spotten; Daniel sei ein alter Griesgram und unser Führer der wichtigste und
gütigste Mensch, den man achten und verehren müsse.
Mir
aber war klar, daß dies alles zu den Erwachsenen, vor allem zu den Herrn
Männern gehörte, auch dies Keuchen von Vater, wenn er mich prügelte, bis ich
"Wasser verlangte", dies Kujonieren auch durch Otata, wenn er manchmal
die Ami anschrie, daß sie bis ins Herz hinein erschrak, sie war doch so sanft
und sang immer Opernarien, so schön und tremolierend, wie ihr Bruder, der
Mischonkel und Amerikaner, der Schiffsarzt war. Sie sang diese Arien ausm
Freischütz, den der Generalmusikdirektor mit dem Gesangverein einstudiert
hatte. Aber nun brauchte man ihn nicht mehr, den Direktor Schlüter, in diesen
schweren und ernsten Zeiten mußte man andere Lieder singen wie: Heute wollen
wir marschieren, einen neuen Marsch probieren, tiurititoiti. Und : Übern
schönen Westerwald, ja da pfeift der Wind so kalt... Und so wurde der
Generalmusikdirektor und sogar Hermann, der als frischgebackner Arzt diese
Übersiedlungsaktionen mit der Donaudampfschiffahrtsgesellschaft begleitete, in
den Warthegau gebracht und dort angesiedelt.
Und
noch mehr hing es irgendwie auch mit den Baruchs und den Mendels zusammen, denn
einmal, da ging ich mit Georg und Tata die steilen Treppen zum Gang des
Baruchhauses hinauf, wir hatten ja die Schlüssel, gingen also den wackligen
Gang meines Geburtshauses entlang über die Himmelstreppe zum Dachboden hinauf,
da hörte man auch ihrer Wohnung das Radio auf Englisch. Da hörten die Mendels
und die Baruchs "Feindsender", deutlich das Pausenzeichen von BBC.
Und Georg sagte zu Tata: Du Sles, die müßten wir eigentlich anzeigen. Und Tata
unheimlich ruhig: Nichts da. Nichts wird angezeigt, laß die Leute in Ruhe.
Vater
war zwar wie alle in der DM (Deutsche Mannschaft) gewesen, aber überzeugt von
der Sache war er nicht. Und er war genauso entsetzt wie viele, als die
bekannten jüdischen Freunde eines Tages das Trottoir schrubben mußten. Auch das
"Kauft nicht bei Juden" brachte er nicht an der Tür seines Geschäftes
an.
Auch
der Kolonialwarenhändler Kwieschinsky mit der schönen Lea, der die vielen
Apfelsinen und Grapefruits, Zibeben und Rosinen führte, alles von weit her, bis
nach dem fernen Afrika ging der Geruch aus dem gewölbeartigen Raum, blieb ungeschoren.
Tafeln mit "Juden unerwünscht", die gabs beim Konditor Martini und
beim Hutmacher Ligner und auch bei Misselbacher. Die Tafeln, die uns die
Volksgruppe zugestellt hatte, haben wir zerrissen, sagte Vater. Also bei A.V.
Hausenblaß neben der Gewerbebank waren die Schaufenster sauber. Dafür hing
neben der Koprol-Reklame in der Vitrine der Apotheke "Zur Krone" das
Schild "Juden unerwünscht".
Auch
den vielen Puppen, die Sägespäne im Leib hatten, wie in der Manege des Zirkus,
der unlängst neben der Feuerwehrkaserne an der Neuen Brücke seine Zelte
aufgeschlagen hatte und wo ein Artist wie es hieß ohne Netz sich zu Tode gestürzt
hatte, waren die Körperchen nicht aufgeschlitzt worden. Nach außen waren wir
anständig, bei uns ging im Innern nicht alles friedlich zu.
Im
angrenzenden ungarischen Gebiet aber, in Neumarkt, da war der Teufel los. Klar,
die Ungarn mit ihrem Magyarorszag und dem eitlen Affen, dem Admiral Horty!
Die
Weihnachtsmänner mit weißem Bart und roter Kapuze standen an der Ecke zum
Spielzeugmarkt und den Koronderdeppen und hatten große Säcke, in denen Wünsche
drin waren, daraus sprangen lauter geköpfte Puppen, träumte ich und schrie, genau
wie bei einem anderen Traum, den ich öfters hatte, nämlich daß ich fliegen
konnte und so spöttisch auf die Erde herabsehen auch im tiefsten Winter, wenn
der eiskalte knirschende Schnee blinkert und blitzert so um die Weihnachtszeit,
und da heulten die Wölfe und stürmten heran, ich aber blieb hohnlachend stehn,
bis sie ganz nahe waren, um dann abzuheben. Im entscheidenden kritischen
Augenblick blieb ich bleischwer im eigenen Gewicht hängen... und wachte auf.
Ein gnädiger Gott, ja. Ob der immer so gnädig ist?
Es
gab damals brutale "Judenverklopfer" unter uns. Auch Väter meiner
Kinderfreunde schlugen in der Konditorei Martini Juden blutig.
Jaja,
ich weiß. Roszika zeigte mir damals auch zum erstenmal, was eine Frau ist, samt
schönem weiblichem Mondgewächs. Seit ich so "erweckt" worden war, sah
ich dann regelmäßig durchs Schlüsselloch, wenn die schöne junge Tante Minch
nackt in die Wanne stieg. Marisch und Roszi waren mir mit ihrer großen
schwarzen Mutz noch lieber.
Doch
das war Sünde, mußte verheimlicht werden, wehe, es erwischte mich jemand.
Ich
hör noch, wie die arme Friederike erzählte, daß der Paul und der Franzi auf den
ungarischen Mägdeball geschlichen sind. Jaja: Die sind quasi ausgerissen.
Erinnert ihr euch nicht? Und sind mal ins fremde lockende Gebiet übergewechselt.
Und
Mutter hatte auch gleich ihre Erinnerung dazu: Sonst sind wir ja kaum mit
anderen in Berührung gekommen, wir waren hermetisch abgeschirmt... schon
gesellschaftlich, das war ein Berührungstabu. Und als ich sagte: Der Franzi und
der Paul sind einfach ausgerissen, weil sie sich auf dem ungarischen Mägdeball
ganz schön saftig betätigen konnten, antworten alle im Chor: Ma genau. Jaja.
Weil
die Ungarinnen viel freier waren als die Sächsinnen. Die braven Sächsinnen
haben doch alle um ihre Jungfernschaft, ihr Tauschobjekt, gebibbert.
Awer
Mächel!
Jetzt
mischte sich auch Vater ein: Man mußte sittlich sein.
Darauf
ich: Schuften und sonst nix."
Vater:
Das Sexuelle mußte unterdrückt werden, ja., die andern Völker taten das nicht
so wie wir!
man
hörte Friederike lachen. Alle lachten, als sie nun sagte: Naja, die
Szeklerinnen, die waren ganz wild, die tobten sich aus.
Ich:
Dumm wart ihr, warum habt ihrs nicht auch getan.
Vater:
Na, dann hätten wir ja die kulturellen Leistungen nicht vollbringen können im
Südoste.
Der
S.-Großvater hatte sich über die Buchhandlung Horeth ein schweres Buch kommen
lassen, von Oswald Spengler. und eines von Chamberlain, dem Schwiegersohn
Richard Wagners. er versuchte, sich selbst Mut zu machen und las in den neuen
Büchern. Wir müssen unbedingt behalten, was wir haben, unbedingt, dachte er:
Unsere Tüchtigkeit macht uns niemand nach. Gleichförmigkeit, Herrschaft der
Ordnung über die Stimmung, gegen dieses Sprunghafte.
Handel
und Wandel, kein Fremder durfte Konkurrenz machen. Keine rumänischen oder
ungarischen Geschäfte hier in der Stadt. Traffiken ha, kleine Klitschen. aber
sonst! Hessheimer, Misselbacher, Essigmann. Unsere Firma und noch ein halbes
Dutzend anders. Und die Gewerbebank erst recht. Das muß so bleiben. Weg mit dem
Liederlichen und Schlimmen. In den großen Städten Sündenpfuhl. Bei Mossora
diese Orgien. Die übertriebene Sehnsucht und das Sichauslebenwollen schwächt
die Lebenskraft. Das anständige. Radikale.
Bei
Festen, bei Geburtstagen machte sich der kleine Michael in die Hosen. Dies
Bauchweh. Dicke braune Kacke. Dünnere floß die Beine hinab. Wagte nicht aus dem
Klo zu kommen. Höllenqualen.
1933,
da sollen Millionen Menschen auf dem Potsdamer Platz in Berlin wie im befreiten
Rausch gesungen haben: Ich bete an die Macht der Liebe/ die sich in Christus
offenbart...
Hermann
war dabei.
Es
gab keinen überzeugenden Zusammenhalt des Weltkinos mehr. Früher waren es die
Götter. Jetzt war es der Herr Hitler. Das Eine, das Wesen, das Deutsche.
Aber,
ereiferte sich Mutter: Die "Laffen", der Tausch Dolf und der schöne
Falk saßen in Scheszbrich im Stadthaussaal vorn, kamen mit diesen Streifen und
Hitler-Armbinden, setzten sich in die erste Reihe, noch vor den Stadtpfarrer.
Sie
kamen ostentativ, entrüstete sie sich: geschlossen kamen sie hereinmarschiert,
grüßten mit Hitlergruß, bildeten sich rauschenden Beifall ein, der immer
ausblieb; und waren doch nur Hutmacher, Kaufleute, irgendwelche Handwerker aus
der Vorstadt, diese "neue Elite". Am edelsten noch unser Philosoph
und Essigfabrikant. diese Schwarzgestiefelten hielten sich für einen neuen
Adel. Und waren doch nur Proleten. Lächerlich. Neue braune Hautevolee. Dabei
hatte sie niemand gebeten oder gerufen. Und hatten nur alles nachgeäfft.
Mutter
zeigte mit den Händen: So, hier, die schwarzen Hosen, die Streifen, die
Stiefel, Hakenkreuzbinde. Stolz erhobenen Hauptes kamen sie rein. – Und wir
mußten uns das lachen verbeißen.
Aber
im Bücherschrank oben, bei S.-Großvater in der ausgebauten Mansarde, da stand
neben "Mein Kampf" der Bilz: Naturheilkunde. Da gingen wir Kindern
gern nackte Frauen anschauen, Klappbilder mit allen Innereien. Und da zwischen
den Beinen: Die Scheide. Auch Fotos gibts von diesem Raum. Mich kommt herein,
ruft, auf den eignen Stimmbändern spielen bis in höchste Tonlagen: Raus, ihr
Fratzen, wat säkt ihr hä. Und es schreit
ihr das Aufgeschnappte zu aus einem Buch, gröhlend die Bagage: "Das
Bürgertum ist to, es lebe die Bewegung. Heil." Ganz perplex sieht Minch
auf diese Wastel.
Als
Kinder lasen wir begierig: Und Adam zeugte... Und Isaak zeugte... und Abraham
zeugte... und, und, und. Und die aufklappbare Frau im Bilz-Naturheilkundelbuch.
Und
der grüße Kachelofen summte; draußen ein kaltes Schneien, Spatzen im Schnee.
Spuren. Eisige Luft. Ein Vogelhuschen am Fenster.
Wir
fanden keinen Aufschluß über dieses Geheimnis, nur unsere eigene Wunde, die
wuchs; die Frauen trugen diese Wunde zwischen den Beinen. Und die schöne Minch
kam herein und jagte uns aus dem Zimmer: Hinaus ihr Fratzen, ihr habt hier
nichts zu suchen.
Und
höre sie jetzt, lasse die beiden Toten hier wieder ins Leben zurückkehren,
Friederike und Vater. Oder sind sie wirklich hier? Ich spüre ihre Anwesenheit
und erschrecke: Wie hieß dieser Ball nur? Vielleicht wars ein Fasching, ein
Mägdefasching. Und Mutter wirft ein: Vielleicht der Schariball? Nein, nein,
nicht der Schariball, das war ein vornehmer Ball. aber auch der war ja anrüchig
bei uns...
Auf
unserem Dirndball wurde jedes Jahr alles schön arrangiert, mit Rutschbahn und
Gebirgskulissen. Unter der Galerie im Stadthaussaal gabs eine Art Höhle, die
Almascher Höhle, da drin weiche gemütliche Sitzbänke, ein Zelt, das war
mystisch beleuchtet, halbdunkel. wir schlichen uns da rein, haben aber wirklich
nichts angestellt! (Lachen). Und Vater mit fast trauriger Stimme: Na, wer hat
da schon was angestellt!
„Ja,
und die Gardedamen flüsterten: Die Kinder, die sitzen da in der Almascher Höhle
mit ihren Freunden, ihren Liebchen im mystischen Dunkel. Und die Ami, besorgt
um unser Seelenheil (Lachen), kam herunter, stand da unter der Tür der Almascher
Höhle … kam herein, stand dort und sagte laut und deutlich: Friederike, Erika,
ihr kommt jetzt sofort da raus. Kutt sifurt eraus! Und wir haben einfach
gesagt: Nä, nä. Nein! (Lachen). Und meine Mutter mußte unverrichteter Dinge
wieder abziehen. Das war eine große Heldentat. Wir haben uns herrlich amüsiert.
Warum sollten wir da auch rauskommen! Heimlich waren ja damals die Sitten,
wenigstens im Unbewußten, genau so locker wie heute!
Noch
mehr als die Ami, wollte mein Vater alles bestimmen, alles, was wir tun
sollten, hatte so zu sein, wie er es wollte!
„Auch der S.Großvater hatte das Sagen im
Haus“, sagte meine Mutter: „wenn ich aufsehe, ist er immer noch auf einem
blassen Lichtbild zu erkennen, ein freundliches Gesicht mit hoher Stirn,
randloser Brille, milde und doch – auch er neigte wie fast alle Großväter zu
Wutausbrüchen. Wehe, ihr Ehrgefühl wurde verletzt. Es war die Duellgeneration.
Mein Vater hatte Säbelschmisse im Gesicht, Mensur in Wien, wo er Tiermedizin studiert
hat. Und der S.-Großvater verkehrte in Akademikerkreisen; organisierte Feste
und gehörte dem Jochtverihn, dem Jagdverein an, Kontakt mit Professoren und
Doktoren, so mit dem berühmten Raketenobert, der Gymnasilalehrer an der
Bergschule gewesen war. Und Angeln ging er, er hatte zwei Angeln, eine mit
Senkblei, saß dann auf einem zusammenklappbaren Jagdstühlchen an der Kokel und
wartete mit Engelsgeduld, daß da ein Fisch anbiß, und du Mächel, warst ja oft
mit ihm, hattest eine selbstgebastelte Angel: Haselnußrute samt Zubehör, von
ihm spendiert. Lerntest Geduld als Kind, das wichtigste im Leben.„ „Ja, ich
weiß, es waren fade Wassergerüche, Plätschern, Springen von Weißfischen in der
stillen Wenchkrümmung. Er lehrte mich Hören, Lauschen, menj Jang, sagte er, de
Ställ, de Ställ, hierst tea se.“ „Und er brachte manchmal einen Weißfisch oder
einen Waller, einmal sogar einen dicken Karpfen nach Hause. Meist aber viele
kleine Kokelfische, daraus ließen sich dann „Russen“, in Öl gebackenes
Fischdurcheianander, das man mit den Gräten aufessen konnte, machen. Ich aß da
mehr ihm zuliebe seine Ware mit auf, denn ich mochte Fisch nicht. Einmal kam er
auch mit einem Hasen von der Jagd. Aber da hatten alle eine Spuri, daß er den
irgendwo in einer Nachbargemeinde erstanden hatte, doch niemand ließ sich was
anmerken, keiner wollte ihn kränken; er konnte furchtbar sein, und wir
fürchteten seine kalten, stillen Wutausbrüche.“
„Das
Jagen war damals sehr beliebt, ähnlich wie heute Fußball“, hörte ich Vaters
sanfte Stimme: „Jagen war nobel. Mein Vater hatte sich von ganz unten
hochgearbeitet, wie so viele seiner Generationkollegen, damals in jener wilden
Gründerzeit am Anfang des Jahrhunderts. Die Not und die Entbehrungen, die
Krankheiten und Einsamkeiten können wir uns heute gar nicht mehr vorstellen;
daß dann der Status des Herren sehr
begehrt war und verteidigt wurde, ist verständlich; sie sind dabei sehr hart
geworden, herrschsüchtig in diesem Fieber des Auftiegs und der gnadenlosen Konkurrenz.
Vergiß nicht, es ist Hitlers Generation! Mein Vater war frühe Kriegswaise, sein
Vater war als österreichischer Ulan im „Bruderkrieg“ bei Königgrätz gefallen;
die Mutter, meine Großmutter, blieb
allein mit vier Kindern, sie hatte ein Wirtshaus an der Landstraße; es ging da
sicher nicht sehr nobel zu; wüstes Volk kam vorbei, Fuhrleute, fidelnde Zigeuner,
Bauern, kleine Handwerker. Trunksucht auf dem Weg zum Markt. Nach dem Markt.
Johlen. Besoffene. Streit, Schlägerein. Mordfälle. Polizei. Untersuchungen,
Kommissare, heißblütige Madjaren. Bistritz, unweit vom Borgopaß. Schon als
Schüler litt mein Vater Hunger und Frost. Ein Kinderbrief aus jener Zeit ist
erhalten, da schreibt er an seinen älteren Bruder Franz, der in der
Kaufmannslehre war, um Hilfe: „Lieber Bruder! Theile Dir mit, daß ich in der
dritten Klasse bin und die Mutter jetzt mehr Auslagen hat mit mir als bis nun.
Daher, lieber Franzi, könntest mir auch was schicken, du vergißt ganz auf mich,
wenigstens auch nur ein paar Kreuzer alle Monath, gib weniger aus und spare
mehr, damit auch mir was bleibt. Es grüßt und küßt dich dein Karli.“
In
Bistritz, im Gasthaus seiner Mutter, der Therese S. ist mein Vater nicht lannge geblieben, er kam als Lehrjunge mit 14
schon nach Kronstadt, und mußte dort schon um vier Uhr früh aufstehn, alle
Hausarbeiten verrichten, die Schuhe der Herrschaft putzen, Feuer anzünden. Er
wurde dann Kommis, kam schon 1910, nach der Heirat mit seiner Mitzi (die mich
später überall herumschickte, ihren Ahnenpaß zu suchen, denn sie behauptete
adlig zu sein: Kerekes de Kerekes de Kerekes), kam mit ihr nach Schäßburg, trat
dort in das Schnittwarengeschäft seines Schwagers Heinrich Hausenblasz ein und
übernahm nach dem Ersten Weltkrieg die Firma.“
„Aber
wars nicht so, daß deine Generation, Vater, im Grunde genommen nicht sehr autonom
war?“
„Na,
gar nicht!“
„Wars
nicht so, daß eure Väter dominiert haben, sie wollten das Regiment führen!“
Es
war meinem Vater anzusehen, daß er sich zurückhielt. Mißmutig trommelte er mit
den Fingern auf dem Tisch: “Ich muß eine Einschränkung machen; wenn ich nicht
ins Gecshäft von Vater gegangen wäre, hätte meine Autonomie nicht so zu
leiden brauchen, weil er ja mein Chef
war und gleichzeitig mein Vater!“
„Eben! Das war doch das totale Abhängigkeitsverhältnis!“
Und
nun mischte sich auch Mutter wieder ein und wandte sich an Vater: „Weißt du,
ich habe immer sehr darunter gelitten, wenn dein Vater mit meinem Vater
Auseinandersetzungen hatte. Und meist gings ja um Häuser, ums Bauen, um Besitz,
den immer sie uns gaben, dafür natürlich Gehorsam, Dankbarkeit und Liebe
verlangten! So war das doch“
„Ja,
das Grundstück im Baumgarten war dein Erbe. Mein Vater bezahlte das Haus. Und
dein Vater mäkelte da am Haus herum, meinte, auch da befehlen zu können! Und
wie gebaut werden müsse, könne er bestimmen! Und bekam einen Wutanfall, weil
wirs nicht unterkellert hatten. Das machen doch nur die Schattertzigeuner,
schrie er. Es war schon beleidigend.
Dein Vater wurde ganz blaß, saß da und zitterte heftig Er hatte ja das
Geld gegeben, und er war auch gewohnt, zu befehlen.“
Das
macht man doch nicht. Der Schwiegervater hat sich dann auch entschuldigt; es
fiel ihm schwer, sich zu entschuldigen, man sah es ihm an. Aber mein Vater kann ja auch furchtbar
sein, um ein Haar hätte er mit dem Spazierstock auf den Gegenvater eingehauen,
er hatte sich schon erhoben, da beherrschte er sich, vielleicht weil Eri ihn so
bittend ansah; über ihren Vater hatte sie ja kaum Macht, über meinen schon! Wer
hatte schon Macht über ihren Vater, nicht mal der Liebe Gott. Unmäßig war sein
Jähzorn. Beleidigend wars irgendwie. Und die merkten es gar nicht! Schlossen
uns aus, als wären wir unmündige Kinder! Und ich wurde einfach gar nicht
gefragt, was ich dazu zu sagen hatte!“
„Ja,
sie wollten das Heft in der Hand behalten.“
„Tyrannen?“
„Ach
nein, so weit würde ich nicht gehen, doch sie bezahlten ja alles; wir hatten
nur unser Gehalt, ich war einfacher Angestellter. Wir hatten dann noch freien
Einkauf bis zu einer bestimmten Summe…“
Ich
höre ihn, den umständlichen langsamen Baß meines Vaters:
„Und
dann habe ich eben ohne besonderen inneren Zwang und meinem Vater zu Liebe in Leipzig Handel studiert. Ich wollte
allerdings noch den Dr. Juris und den Dr. Rer. Pol machen. Aber da hat Vater
einfach gesagt.. dies geht nicht, da kommst du mir nicht mehr ins Geschäft! Er
hat es ja auch sehr schwer gehabt, sein Geschäft aufzubauen. Schon mit 13 kam
er in die Lehre, mußte hart arbeiten; der ganzen Familie des Meisters dienen.
Prügel. Blaugefrorene Hände, vier Uhr früh aufstehn, Feuer anzünden, zehn Paar
Schuhe putzen. Verhöhnt, erniedrigt. Er kam auf der Wanderschaft als Wandersgeselle bis nach Vorarlberg. In
Kronstadt wurde er Kommis und Prokurist. Und
dann die Heirat, der Eintritt ins Gecshäft seines Schwagers in
Schäßburg. 1916, nach der Niederlage
unserer Truppen, General Mackensen wurde bei Marasti und Marasesti von
den Rumänen geschlagen, wurde das ganze Geschäft in Kisten verpackt und nach
Budapest abtransportiert; es kam dann nach dem Anschluß an die Walachei wieder
zurück nach Schäßburg. Vater fuhr ja mit eisenbeschlagenen Reisekoffern nach
Wien, Prag, Budapest, Pressburg zum Kurzwareneinkauf, übernahm nach dem Krieg
die Firma unter großen Opfern. Es war sein Lebenswerk und er war sehr stolz
darauf. Er war so schweigsam und still, er hat nie geklagt, und alles nur in
sich reingefressen. Er bekam schon mit vierzig ein Magengeschwür,
Magenblutungen, meine Mutter war so ängstlich bei seinem ersten Schlaganfall.
Er aß dann nur noch vegetarisch; trank viel Milch, aß Gemüse, ich seh ihn noch
heute, wie er dasitzt, die große weiße Serviette umgebunden, trinkt Yoghurt,
ißt Topfenknödel, das Besteck hatten wir immer auf kleinen Metallständern neben
den Tellern. Er hat sich wenig um Politik gekümmert. Aber Odnung mußte sein.
Wichtig aber war ihm sein Bücherschrank, wo die nach Größe und Farbe sauber
aufgereihten Bücher standen. Hinter Glas, hinter einem rauchfarbenen Vorhang.
Bücher sind Spiegel der Seele, und es darf nicht jeder Fremde gleich sehen, was
da für Bücher stehen. Kultur, ja, die Zivilisation aber zerstört alles. Er
lehnte die Lebensformen der neuen Zivilisaton der Großstädte ab, las gern im
Spengler: der sprach vom Untergang des Abendlandes. Und er meinte, wir Sachsen würden am Leben
bleiben mit einem starken völkischen Christus:
Wer
auf die eigene Schwachheit blickt,
Der
wird bald überwunden!
Zum
Kampfe ist nur der geschickt,
Der
Christus hat gefunden._
Und
er schlug ein Kreuz, der milde Großvater, heimlich fast, denn er kam aus einer
katholischen Familie, wurde nur seiner Frau
und der Umgebung zuliebe Protestant. Wer diesem Volksstamm angehörte,
hatte ja seit Jahrhunderten nur Vorteile, und diese Vorteile haben dazu
geführt, daß die „reinrassigen“ Sachsen im Laufe der Jahrhunderte dauernd
andere assimiliert haben.“
Doch
bevor er jetzt gehe, wolle er mir doch noch etwas anvertrauen: „Du mußt die
Dinge gar nicht besitzen, das macht dich unfrei, mußt dich nur daran freuen;
ins Grab kannst du sie ja nicht mitnehmen; und hier, wo ich jetzt bin“, fügte
er leise hinzu, „ sind sie völlig überflüssig! Und sieh mal, was haben die Großväter
davon gehabt, haben geschuftet und geschuftet, sogenannte Bleibende Werte angehäuft, und dann, dann war plötzlich alles weg.
Und das sag ich dir, es war für mich wie eine Erleichterung, als die
Kommunisten uns alles enteigneten. Mein Vater aber, der ist daran
zugrundegangen! Du weißt, der Schlaganfall…“
Sie
tönt voll Ernst , sie tönt voll Macht, vom Berg die Glocke droben … Vier Männer
müssen die Große Glocke ziehen!
So
klang sie als Großvater begraben wurde. Ich saß mit Hannes, Carmen und Vater im
Herrenzimmer; Vater war krank, Pneumothorax, krank war er aus dem Krieg
zurückgekommen, aus dem Schnee, der Eiseeskälte bei Stalingrad; unten vor dem
Haus ging Nitzá, der treue Zigeuner vorbei, er grüßte traurig herauf, er hatte
den Domnule S. sehr gemocht! Vater sah wehmütig zum Fenster hinaus und sagte:
„Er wird nie mehr wiederkommen, der gute
Großvater!“ Und Tränen rannen über seine Wangen. Hallt und rollt die Glocke
übers Land. Das Tastbare, Trockne auflösen? Dies meine Hand, dies eure, ich seh
die Flimmerhärchen auf der Hand.
Sagt
Vater noch etwas über den Irrtum des Sehens? Daß es doch gelte, diesen
aufzulösen? Oder hab ich das nur geträumt, wie überhaupt dieses seltsame Nachtgespräch?
Eine glatte Unmöglichkeit, würde Jann sagen.
Er aber: „Lies nach bei Dante!“
Daß sich nur dann das „Licht Wahrheit zeigen“ könne, wenn die Härte der Erde,
der Dinge und auch das „Gefühl“ sich endlich als unwirklicher, ohnmächtiger
Zustand erweisen, der aus der Welt fallen! „Du weißt es auch, kannst dich aber
trotzdem nicht davon befreien, solange du lebst,“ höre ich ihn sagen; und nicht
mal diese große Lehre unseres Elends in dr großen Ziet, dieser große Schock,
hat dir geholfen! „Du spielst ja sogar an der Börse! Und hats ein eigenes Haus,
das hab ich nie gewollt!“ Er war ja Kaufmann und hatte immer davon gesprochen,
von dieser "„Schicksaltragödie der Täuschungen auf dm Markt!"“Und
seit 1930 gebe es sie eigentlich gar nicht mehr, und trottzdem schreien sie immer noch, in den Börsen, den
Märkten, und in den Schlachthöfen. Nur die Verwalter haben es sehr gecshickt versteckt
und verheimlicht, das Verschwinden nämlich: ine Lere, eine ungeheure Lücke sei
zurückgeblieben, „der Betrug hängt im luftleeren Raum, in dem die entfesselte
Unterwelt tanzt!“ Die Stimme wurde schwächer und schwächer, bis nur noch ein unverständliches
Flüstern zu hören war, und dann ganz verschwindet!
Und
dann nachts im Dunkeln, Sterne, manchmal eine Sternschnuppe über dem Land, ein
dünner Strich,- der Mond wie ein Lidschatten umgkehrter Helle, unantastbar ein
Rätsel wie der Tod. Und sagen sie noch, daß sie ein Engel besuche? Aus welchen
Ordnungen? Vielleicht aus dem Empyreum?
Nun
sitze ich also im gleichen Zimmer, sehe hinaus auf die Gasse, wo damals Nitzá
vorbeigegangen war, seltsamerweise war sogar die Große Glocke zu hören, sie
wird immer seltener zu hören sein, und ich schreibe an diesem Buch.
In
der vergangenen Nacht hatte ich einen seltsamen Traum, der mit Großvaters Tod
zu tun hatte, und deshalb hatte ich ja heute wie unter Zwang über ihn
geschrieben.
Im
Traum, der mit diffusen Erinnerungen vermischt ist, steht die Mitzmother da
draußen in diesem Garten hinter dem Haus. Sie steht, wie sie oft gestanden hat,
im Gartenbeet unter dem Apfelbaum, dort, wo früher eine kleine Kinderschaukel angebracht
war, steht dann da als wäre sie der Baum, der aus dem Beet emporwächst.
In jener Eimer-Ecke
hatte ich einmal meine Schikappe verloren; Kibi war mit dabei; und wir suchten
vergebens. Nach einer Weile sagte sie: Du mußt sich nur einmal mit
geschlossenen Augen im Kreis herumdrehn, dann die Augen öffnen, schnell linsen,
und wo dein Blick hinfällt und stehnbleibt, da muß die Kappe sein. Und
tatsächlich: da hing sie, die Kappe mit den Ohrenklappen, ein einem Ast wie
eine groß blaue Zwetschge und schaukelte
langsam im Wind. Am Zaun und jenseits des Zaunes sah man die Krautköpfe und die
Wolfshunde des Senators Lang. Vielleicht hoppelte auch ein Kaninchen zwischen
den Köpfen in unserem Sehbereich, schwamm in unseren Augen und ertrank. Über
mir aber lag ein altes übelriechendes Abflußrohr, das keine Verbindung mehr zur
Erde hatte. Und als ich dann glücklich, die Schikappe gefunden zu haben, mich
umsah, erkannte ich meine Lieben in der Laube und Oma im Beet – alle sehr blaß
und stumm. Wie angewurzelt saßen sie da und sagten nichts. Und ich denke: Wie
schön, daß ich wieder zu Hause bin und alles so duftet. Da könnte ich genauer
erfahren, ob nicht mein Augenschein
täuscht, und vor allem, was ich gern erinnere, als wärs meine einzige Speise,
die mich am Leben erhält. Doch ich wage mich ihnen nicht zu nähern, sie nicken
mir unmerklich zu, ich aber stehe stumm da. Ja, warum frage ich sie denn nicht,
wie diese halb verrosteten Metallstühle in der Laube, das Metallgitter, früher
wars grau gestrichen und rot, wie das alles wirklich riecht und warum
ich nicht selbst daran rieche, hab ich denn keine Nase mehr? Wozu fragen? Wie
blöd. Geschmack steigt dann in mir hoch, als hätte ichs tatsächlich gegessen:
Eisen, Rost, alte Ölfarbe, halb vertrocknet. An der Laube winden sich große
weißsternförmigzarte Klematisblüten hoch, in der Mitte leuchtet eine gelbe
Narbe. Gehe nicht näher, fühle aber den alten abgeblätterten Rostschutz.
Regen, Sonne,
rissiges Holz. Hätte gern gefragt, warum Tische und Bänke (mit einer Kette
festgehalten, damit sie wohl nicht verschwinden) einmal rot gestrichen gewesen
waren. Neben den Beeten stehen Carmen und Will, ihr schwerhöriger Mann, der ein
liebes Gesicht
hat, aber finster
schaut. Sie pflücken einen Apfel.
Dann sind wir
plötzlich alle in einer Apotheke. In der Apotheke 'Zur Krone' am Markt; sie ist
voller Leute. Dr. Capesius und seine Frau nicken mir zu. Jann kommt, streckt
mir eine Mark hin. Eine Verkäuferin erkennt mich, wundert sich, daß ich so
lange nicht zu Hause war. Herr Terplan, komisch, Herr Terplan, sagt sie. Wen
sieht sie da? Wir kaufen Heilmittel und Pfefferminzbonbons. Als wir wieder auf
die Gasse hinaustreten, nachdem wir uns artig mit Grüß Gott oder...
verabschiedet haben (einer hebt den Arm und zeigt so mit den ausgestreckten
zusammengelegten Fingern auf eine runde Uhr mit Glockenspiel, erkennen wir auf
dem Markt sehr viel Volk. Es ist schon schwarz von Menschen. Alle in Schwarz.
Wir gehen durch die Albertstrasse. Im Roten Wirtshaus schlägt uns Schnapsgeruch
entgegen und ein Gröhlen. Viel Volk, ein plebejisches Fest. Und eine
Schlägerei. Aus dem Garten unter den Eichen höre ich eine Ziehharmonika quäkend
ans Trommelfell hauen: Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern, keine
Angst, keine Angst, Rosmarie... wir beginnen zu laufen, es fängt zu regnen an.
Schwere Regentropfen fallen. Überall Wasserlachen und Dreckpfützen, auch an
Adrians Haus. Vom Zimmerplatz eine Staubwolke. An der Ecke zur Holzmarktgasse
steht ein Fiaker und grüßt bedeutungsvoll, traurig und wie Beileid wünschend.
Ich ärgere mich über sein Gesicht – wie zehn Tage Regenwetter; der versaut mir
noch die Heimkehr. Ich wollte doch meinen Bruder Hannes auffordern, mit mir zu
tanzen, wie früher, wir haben das als kleine Buben oft gemacht. Aber am
Mansardenfenster steht einer, es muß der neue Einwohner sein, einer von der
Geheimpolizei, der schaut finster herab, mit stechendem Blick. In der Laube
sitzen sie noch immer.
Das hat man davon,
wenn einmal diese Sehnsucht aufbricht. Wie im Märchen von Jugend ohne Alter und
Leben ohne Tod. Wehe, du bist abschiedsunfähig, gerätst ins Tal der Tränen und
willst immer nur nach hause, obwohl du mit einem Satz schon das Paradies
erreicht hättest, wie Großvater, der fort ist – für immer, und doch noch da.
Gestorben und doch am Leben, also wie ein ewiges Leben in Schmerzen ist das,
aber Zeit zählt keine Jahre. Wenn du einmal hinüber bist, alt-alterslos Gott
überlassen, der alles geschaffen hat, auch das Nichtsein der Dauer und Steine
am Wegrand, die melancholisch nur für uns gleichbleibend scheinen. Im Innern.
Ihm zu: bewegt sich alles in einer andern Ordnung, als die Bewegung der Augen.
Wehe, du willst nach Hause und fährst tatsächlich, wie ich es gewagt hatte.
Als ich nach Hause
fahren wollte, sagten mir die Frauen: Tus nicht, deine Eltern sind doch schon
seit hunderttausend Jahren tot. Und auch du mußt sterben. Und als ich dann
endlich ankam, sah ich das Haus am Holzmarkt ganz zerfallen, das in der
Baiergasse vom Fluß weggeschwemmt, verirrte mich zwischen Unkraut und konnte
weder den Zimmermannsplatz noch die Wenchbrücke oder gar den Hof in der
Baiergasse wiedererkennen.
Und Mirjam steht
oben auf der Treppe, steht vor der weißen Eingangstür, steht immer da oben,
weiß, blau ihr Kleid – auch sie lacht. Kimmste, Kleiner? Winkt, sie hatte eine
zarte weiße Hand, sie streicht mir jetzt über den Kopf: Bursch, sagt sie, biste
lieb?
Es ist wie der
Lichtstreif unter der Türe, wenn im großen Nebenzimmer noch die Eltern sind,
gedämpftes Reden vor einer Abfahrt. Im Hof aber duftet der Phlox. Buschig das
Geheimnis, Wirte sind Rufe, Signale: Es ist aber spät, Kinder; geht schlafen!
Oder: Essen, essen!. Alles, was nicht gesehen werden kann, hinausgeht und nicht
der Liebe Gott ist, sagte Daniel: das ist des Teiwels!
Augen, meine
Fensterlein, aber jenseits die Finsternis, fast schon der schlimme Tod, was
solls hier noch: ein ander Wort. Sag doch, es sei der Sünde Sold. Und weiter,
bitte, bitte. Es kann sein, daß du jetzt im finsteren Kreis der Unsichtbarkeit
gefangen bist, darum, nur darum schon gestorben: Und doch noch am Leben, ein
Schatten, Michael, nichts als ein Schatten des berühmten Teiwels, der sonst nur
im Abgrund der Kokel; dort, wo die Wirbel sind: Strudel hinabziehn. Da sah ich
meinen ersten Toten, käsebleich war er, der junge Soldat, sie stellten ihn auf
den Kopf, er hin verkehrt zur Erde, todesbleich, das Haar wirr auf dem Kopf, im
Gesicht. Licht drang durch; er erwachte nicht mehr. Wir standen am Rand, am
Ufer der Kokel, standen neben Weiden und auf Gras. Oder war es Schotter, Sand?
Schlammgar, und ein Abwasserrohr nah, glotzten mit großen Augen, die starr wurden,
die glasig und angestrengt hinaus sahen, wohin, das war der Anfang.
Mutter
ist die kleine tapfere Soldatenfrau. Und sing: Es geht alles vorüber/ es geht
alles vorbei...
Sie
sitzt auf der blauen Veranda und schreibt einen Brief an Vater an die Front:
Hannes marschiert mit aufgepflanztem Stock an der gefällten Eiche vorbei und
singt: Soldaten sind Soldaten, in Worten und in Taten.
Köstlich,
denn eben legt Hannes an: Sturmangriff. Und dann übt er Parade, marschiert mit
geschultertem Gewehr und singt wieder: Soldaten sind Soldaten. wir lachen über
ihn, denn er ist ja so drollig. Großvater nennt ihn nur Dick, weil er wie eine Kugel
aussieht, den Bauch aber so lustig einzieht. Brust raus, Bauch rein!
Mich
hat Mama in den Film "Blitzkrieg in Frankreich" mitgenommen:
Was
meinst Du, wie ihn das beeindruckt. Seither spielt er mit dem Panzer, den A.
ihm aus dem Reich mitgebracht hat, nur noch Blitzkrieg. Auch Flugzeuge malt und
zeichnet er. Denn in der Wochenschau waren Stukas zu sehen. die Luftschlacht
über England.
Im
"Großkokler Boten" steht es auch heute noch, daß Sonnabend, den 16.
November 1940, nachmittags um 17 Uhr, von ihrem Standort Fogarasch kommend,
vierzig Angehörige der deutschen Lehrtruppe zum Besuche unserer Stadt
eingetroffen waren. Die Gruppe wurde auf dem Marktplatz von der Leitung der
lokalen Volksorganisation und vielen Volksgenossen herzlich empfangen und
willkommen geheißen. die lieben Gäste wurden in Privatquartieren untergebracht.
Am Abend fand im Musikvereinssaal eine Zusammenkunft statt, die einen erhebenden
Verlauf nahm. Kreisleiter Alfred Pomarius entbot den Gästen die Grüße der
Deutschen Schäßburgs, für die freundlich gedankt wurde. Sonntag vormittag
versammelte man sich zu einem wohlgelungenen Frühschoppen in der Wirtschaft des
Musikvereinshauses. Nachmittags unternahmen die Gäste mit ihren Gastgebern und
neuen Bekannten Spaziergänge, vor allem auf die Burg, wobei nicht nur das
Museum, sondern auch die fachgerechte Führung von Julius Misselbacher und ein
Verweilen vor der ehemaligen Folterkammer einen tiefen Eindruck hinterließ; ein
kleiner teil der Gäste war in die benachbarte Gemeinde Marienburg gefahren, wo
ihnen ein begeisterter Empfang bereitet wurde. Die Vertreter der Wehrmacht,
deren Aussehen und Haltung vorbildlich war, schieden hochbefriedigt, entzückt
nicht nur von der Aufnahme, die sie hier gefunden hatten, sondern auch von unserer
schönen alten deutschen Stadt.
Dazu
gab es Bilder über den Einmarsch in Bukarest und die Parade; endlich war der
Schandfleck getilgt, seit November Marschall Antonescu an der Macht, und nun
bald die Achse perfekt. Bilder mit Unterschriften: Luftwaffe beim Parademarsch.
schwere Panzer rollen herbei. Links im Bild S.M. der König.
Als
die deutschen Lehrtruppen einmarschierten, rissen sich die Volksdeutschen um
diese Soldaten; waren untröstlich, wenn sie keinen bekamen. Man ehrte und
bewirtete sie besonders gastfreundlich mit dem Besten was man hatte. Die
schönste Seidendecke, die Gastdecke, das Gala-Gastbett bekamen sie zum Schlafen.
Alles war schön und festlich zubereitet, sie wurden sehr verwöhnt. Und sie
haben sich bei uns natürlich sehr wohl gefühlt. Der bei uns einquartierte
Hauptmann Meyer-Göring war sicher kein Nazi, sondern ein Intellektueller, der
viel für Musik übrig hatte. Eigentlich war er Jurist beim Zeppelinwerk.
Freunde
von uns sagte, ihre Gäste seien sehr begeisterte Nationalsozialisten, Jungen,
die für ihren Führer durchs Feuer gegangen wären. aber politische Gespräche
wurden kaum geführt. Die Gäste haben solche Gespräche merkwürdigerweise
umgangen. Über die Chancen von Krieg oder Frieden wurde nicht geredet. Auch
Hitler wurde nicht erwähnt. Die Verhältnisse in Deutschland waren tabu.
Man
kam eben nur selten gemütlich mit ihnen zusammen, obwohl sie manchmal beim
Abendessen mit dabei waren. Unser Hauptmann erzählte eigentlich mehr von seiner
Familie, von seinem sechsjährigen Sohn.
Die
Ami schrieb Töff über den Einmarsch der deutschen Truppen in unserer Stadt und
über unseren Gast:
Sein
Chef Meissner ist Fallschirmjäger und hat sogar das Ritterkreuz. Er sei vor
fünf Jahren in Siebenbürgen gewesen, erwähnte unser Kreisleiter und Philosoph
in seiner Begrüßungsrede. Es wurde nämlich ein bunter Nachmittag bei Schoppelt
im Männergesangverein gegeben, wo man an weißgedeckten Tischen mit den
deutschen Gästen zusammensaß. Meyer-Göring hat sogar Michael mitgenommen, weil
er auch einen sechsjährigen Sohn zu Hause habe. Es ist Leben bei uns
eingezogen. Wir flaggen nur mit Staatsfahne und Hakenkreuzfahne. Die Leute
reißen sich um die Einquartierung. Unser Gerhard spricht jetzt schon alles. Er
hebt die Hand und ruft: Heil Hiker! Köstlich! Schlaf gut, mein Lieber, es ist
spät und ich will noch baden.
Großes
grobes Kriegspapier, sehr holzig. Mit Bleistift sind die kleinen Zensurnummern
hingekritzelt auf Großvaters Epistel an Onkel A. nach Berlin-Charlottenburg.
Der Brief hatte die Zensurnummer 43/522956 6050. Großvater schrieb, er habe seinen
August-Wechsel bei der Vereinsbank eingezahlt. Auch hoffe er, "mit Mama
noch in diesem Herbst hinauf ins Reich zu kommen", über Wien; und sie
würden auch Erika und Friederike mitnehmen. Dann klagt er über die Teuerung
(1940). aber dann zum Schluß: "Du schreibst verhältnismäßig wenig über
Deine Prüfungsschlachten! Hoffentlich schlägst Du diese auch so glänzend wie
die Armee die ihrigen in Frankreich. Hoffentlich wird dem perfiden Albion bald
auch sein ähnlich verdientes Schicksal zuteil. Viele Grüße Tata."
Auch
die Ami schrieb ihren Söhnen ins Reich: "Schaut zu und kommt Weihnachten
nach Hause."
Sie
wartete täglich auf Briefe; immer wenn Harry, der Wolfshund, unter dem Gang
anschlug, der Briefträger also kam, lief sie ihm schon ins Treppenhaus mit
angehaltenem Atem entgegen. trällernd vor lauter Nervosität.
"Die
Teuerung ist enorm", schrieb sie: "Die Butter kostet schon 180 Lei
das Kilo. und die Angst, daß die Männer einrücken müssen, ist groß. Hansonkel
mußte sich melden. Was der Franzo seiner Mutter von den Unruhen und Pogromen in
Breslau berichtet hat: gräßlich. Hier ist es noch sehr still, aber die Leute
sind ziemlich gedrückt. Und Du, mein Lieber, hoffentlich hast Du Glück und
kommst zu dem Professor, der Dich nicht zu sehr quält und eine Einsicht hat.
Schlaf gut, mein Lieber! Sorge gut auf Dich, daß Du nicht krank wirst, zieh Dir
auch die Weste zum Anzug an." Und dann gießt sie Wasser in den blauen
Krug.
Wichtiger
war das nächste Jahr. Hermann hatte sein Arztstudium erfolgreich beendet und war
von Marburg nach Siebenbürgen zurückgekehrt. Er wolle seine Stelle als Arzt in
einem Motzendorf im Erzgebirge nicht antreten, schrieb er an seinen Bruder nach
Berlin, da für die Betreuung der bessarabiendeutschen Umsiedler in den
Warthegau phantastische Gehälter gezahlt
werden: 25-30000 Lei. Und: Man werde auch vom Militär befreit.
Aber
ein strenger Winter wird prophezeit; die Störche sind schon fortgezogen. Das
Wetter ist wechselhaft.
Im
Baumgarten gabs Fledermäuse, schwirrend im Rauchfang. Angst, die könnten sich
im Haar verfangen, in die Scheide glitschen. Innen, die feuchte Stelle. Mühsam
beherrscht: die Auflösung, das Chaos. Das Liederliche. Genau erklärt im "Boten":
"Über
die Bedeutung des Judentums in unserer Wirtschaft. Da geht einem ein Licht auf:
Die Juden verfügen bei einem Bevölkerungsanteil von 1,15% über zwei Drittel des
Volkseinkommens."
Wer hätte auch den
Eiffelturm besteigen können, 1940, wie eine schöne hohe eiserne Frau,
Welschland im Nu genommen, sagte Onkel Ferdinand, der Lustige: Auf den
Eiffelturm gestiegen, ganz Paris zu Füßen, so war man dankbar, Andreas auch
schon Sturmführer, er, ein SS-Freiwilliger der ersten Tausend-Mann-Aktion, und
also im Fronturlaub. Man denke sich dies Jenseits, sagte er: Glaubst es kaum,
wenn du wieder zu Hause bist, Mutterns Küche, Grießknödel wieder und Ardee oder
de Bienensupp, phantastisch, süße Heimat, ein goldner Bienenstich im Herzen.
Und die Saat? Einst Meeresboden hier: so immer gegeben ein Versinkenkönnen ins
Urgründige, ja, die Tiefe...
Ich erinnere mich:
Es gab da einen Brand, ich rieche noch heute die verbrannten Tierkörper;
Brennen und Weh, und bei Muttern alles mit Einbrenn gekocht, das schmeckt zu
Hause wie nie. Einmal und nicht wieder. Werweiß. Muß i denn, muß i denn. Wann
ich wiederum komm, wiederum komm. Und du, mein Schatz, bleibst hier. Tapfere
Soldatenfrau. Und du mein Schatz. Undsoweiter.
A. Schmidt, der
Erzengel der deutschen Volksgruppe auf dem Rapid-Sportplatz mit Schikappe,
glattgestutzt und glattrasiert allesWuchernde wie die Phantasie: Sie
marschierten gegen Paikles und ungewaschenes Schlamperhaar der Zigeuner und
Juden, Nacken ausrasiert und schwarz-schnittigstramm stiefelnde Hosenenge und
Stirn abgezirkelt mit Augengeradeaus und treukornblumenblauem Blick.
Ehrlichgeradehelle: schritt eben die Front ab der Freiwilligen im breiten
Mittelgang Richtung Schlachthof, da rief frech, unglaublich, so ein
ungewaschener Walache, blutjunges Leutnantchen, nichtachtend heldisches Zusammenbeißen
der kerngesunden Zähne, nichtachtend die Sauberkeit der Formation samt Opfermut
und Tränenreiche: Fatschetz tsche wretz ün tzara noasträ, rief das blutjunge
Bürschen, schwarzhaarig: und machet, was euch dünkt in unserem Lande. Worauf
Erzengelrache auf dem Fuße folgte, nein, auf der Hand lag: Gesindel! Wie eine
Fanfare jüngsten Gerichts erklangs aus dessen Munde, und klatschte die Hand als
Backpfeife auf diese Mücke, die es gewagt hatte, hier fast auf der Wallstadt
(wobei er an gefangene Waller dachte, die Siegfried nach siegreichem Kampfe brät und ißt) das Reich zu beleidigen!
Schänder und Schande dir – ruschine zie. Ruck zuck die Aktion:
Erzengel-Begleiter stürzten schützend vor, recken, Knappen eben, um die
Unsauberen, vielleicht Hunnen, aufzuhalten. Und die Kameraden des khakiuniformierten
Frechlings auch, hielten die Rotentflammten fest, um größeren Skandal, gar
diplomatische Verwicklungen zu verhüten. Duell gabs keins. Wieso, frage ich
mich. sie ließen sich das einfach gefallen? Und mich packt jetzt noch die Wut.
Kampfergeruch,
Geruch nach verbrannter Milch im Haus. Auch die Oma sitzt nun am Eßtisch und
schreibt an unseren Töff ins Reich: Wir erleben alles mit – durchs Radio.
Gestern sprach Fritzsche über seine eindrücke aus Flandern, es war spannend...
Großvater muß
dauernd Pferde requirieren. Und während
die Oma nun nachdenklich den Federstiel ins Tintenfaß tunkt, kommt im
Radio eben Aus dem Zeitgeschehen. Dazu die Tannhäuser-Ouvertüre. R. Wagner.
Jaja,
es wird noch einmal ein Wunder geschehen. Vorsehung und deutscher Christus
haben das Wort.
Und
dann das erste richtige deutsche Weihnachten. Weihnachtsbaum aus dem
Baumgarten. Den brachte der Schlachthausdiener Cloos und setzte auch äste ein.
Morgen Kinder wird’s was geben.
Freilich
gabs auch im Stadthaussaal oder im Sandersaal Weihnachtsfeiern, Krippenspiele,
Theateraufführungen. Reden des Kreisleiters, der hinkend das Podium bestieg.
Er
drehte sich da oben hochaufgerichtet, die Hände aufs Pult gestützt, der hohen
Lichtertanne zu, neben der die Bannspielschar stand, und rief: Stunden der
engen Verbundenheit mit Allmacht und Vorsehung über uns, Stunden einer eng
gemütvollen Verbundenheit aller Deutschen untereinander. Und aus dieser
Gemeinschaft der Herzen geht das Gedenken an Millionen deutsche Soldaten, die
im weiten Europa in Ost und West, Süd und Nord ihre Pflicht tun für Heimat und
Reich. Wir sind bei euch, ihr deutschen Flieger, Männer der Kriegsmarine, der
Waffen-SS, der Wehrmacht. Wir sehen euch im Geiste vor uns, wie ihr zusammengerückt
seid um euren kleinen Weihnachtsbaum aus dem Feldpostpaket oder auch um euren
großen Baum in den Mannschaftsständen, den Quartieren des fremden Landes, in einsamer
Ferne des Nordens, in Kasernen und Schiffen. Es duftet heimatlich nach
Weihnacht, nach Tannennadeln im Kerzenschein, zu dem auch die Mundharmonika das
Weihnachtslied spielt.
Und
leise setzt dazu die Bannspielschar ein, vom neuen Musikdirektor im Gedenken an
die Opfer sinnig als Weihnachtsgabe für die Front gedacht: O du fröhliche, o du
selige...
Und
alle haben Tränen in den Augen. Wie schön!
Der
Gedanke wandert durch Raum und Zeit
zurück in das Glück der Kindheit und vorauf zu Sieg und Frieden.
Und
auf der Friedenskonferenz wird dann alle Welt erfahren, daß das alte Burgund
wieder auferstehen soll, dieses Land, das einst die Heimat der Künste und Wissenschaften
war und das unser Feind Frankreich auf den Rang eines in Weinessig konservierten
Blinddarms herabgedrückt hat. Wartet nur, Deutsche, bis er in unserer Hand ist,
der souveräne Staat Burgund. Mit seiner Armee, seinen Gesetzen, seinem Münz-
und Postwesen wird er der Modellstaat der SS sein. Schon nächstes Weihnachten
vielleicht, wenn Gott will. Er wird die französische Schweiz einbeziehen, die
Pikardie, die Champagne, die Franche-Comté, den Hennegau und Luxemburg. Also
unsere Urheimat, da gehören wir dazu, denn das erste Hakenkreuz, es stammt noch
aus der Steinzeit, wurde in Siebenbürgen gefunden. Wir gehören in diese uralte
Kulturlandschaft der Kelten, der Burgunder, des Gral, und wie der Reichsführer
sagte, wird die Welt starr vor Staunen sein über diesen Staat, wo die
Weltanschauung der SS in die Praxis umgesetzt sein wird.
Eine
eisige Kälte war hereingebrochen in diesem Jahr. Die Rotz gefror zu blaugrünem
Eis am Bart der Bartträger, zwickte in unseren Nasen. am Nachmittag vor
Heiligabend waren wir bis vier oder fünf im harschen knirschenden Schnee an der
Burg, am Hinteren Tor, am Schulberg, weils dort steiler war, Schlitten fahren;
am Friedhof wars damals verboten. Vorfreude, voller Erwartung, schon halb abwesend.
Großvater
saß derweil vor dem Blaupunkt und hörte den Reichssender München:
"Weihnacht ist das feierlichste unserer Feste und kein anderes Volk kann
es so begehen wie wir. Unser allein ist das einmalig schöne Geschenkgeben
dieses Heiligen Abends. Und das ganze deutsche Volk sendet sein Gedenken den
Frauen und Müttern und Schwestern der Gefallenen. Nur wer vergessen ist, ist
wirklich tot. Deutschlands Gefallene sind nicht vergessen. In einem einzigen
Jahr hat sich das Gesicht Europas gewandelt. Es ist wie ein Erwachen durch den
Kontinent gegangen. viele seiner Völker haben sich bereits aus ihren Fesseln befreit,
die Macht des Goldes ist gebrochen. Unerschütterlich in ihrer Gewißheit ist
unsere Wehrmacht beseelt vom glauben an den Führer, durchglüht vom Gefühl der Gerechtigkeit unseres Kampfes."
Ja,
es ist die Frontweihnachtsfeier. Und gewaltig setzt nun die Orgel ein: Ein
feste Burg ist unser Gott. Und die Hitlerjugend aus München singt urdeutsche
Weihnachtslieder.
Flüstern
der Erwachsenen, diese ernsten Mienen, dies Nichtwissendürfen. sogar zu
Weihnachten lag in der Freude und Vorfreude etwas von jener Spannung, wenn das
Schlüsselloch zum großen Speisezimmer verhangen wurde, wo die Erwachsenen
geheimnisvoll hantierten, eine sichtbare Tabuzone aufbauten.
O
Tannenbaum, o Tannenbaum, du bist der schönste Baum, im Sommer, im Winter...
auch dies Lied nun neu entdeckt aus altgermanischem lichtem Volksgut.
Das
große Zimmer rings um unser Klavier, oben das Wagnerbild; die Glasschiebetür
zum Herrenzimmer, wo Akten lagen und geraucht wurde und unser Hauptmann
Meyer-Göring einquartiert war. Es hatte so eine Männerausstrahlung,
Soldaten-Tabak und roch nach Vater: Armbanduhr, Haare an den Armen, Haare in
der Ohrmuschel; große behaarte Nasenlöcher, Nikotinhauch, Bartstoppeln. Eine
ungeheure Distanz, Schläge, wenn man zu nahe trat.
Das
Christfest ist das schönste Fest, das wir auf Erden kennen. Ich empfinde jene
Zeit immer noch als Glück. da hat Friederike recht. Da hat Mutter recht: Das
Schöne. Oder das ungeheuer Fremde?
Ihr
habt so schrecklich viel verheimlicht, alles mußte verschwiegen werden. Alle
Konflikte wurden mit einer fetten Schicht von Gefühlsseligkeit zugedeckt.
Andreas
ist so, seine Mutter ist so, meine Mutter ist so, bin ich auch so?
Wir
sind uns so ähnlich, Michael, sagt Mutter und freut sich.
Ja,
wir sind uns so ähnlich, wir sind gefühlsselig, wehre ich unwirsch ab.
Du
machst uns Sorgen , Kind, du hast kein deutsches Herz.
Mit
Onkel Andreas kroch ich unter die Tanne. Lebensbaum, sagte er, Sonnenwende. Auf
die Geschenke fallen Tannennadeln. Duft. Wie geborgen da bei der Holzeisenbahn.
Stearin vom Lebensbaum auf die gute Hose. Angst. Stock. Verstockt. Aber dann
vergeß ichs. ein leichter feiner Hauch von Hysterie liegt in der Luft. Wie ein
Traum. Seit wir herein geklingelt worden waren mit den silbernen
Eierlikörbecherchen ins Festzimmer –welch ein Glanz. ein neues Leben. Vorher
standen wir vor der Tür, drückten uns die Nasen platt am Zelluloidstreifen in
der Schlüssellochgegend; der Latzi kam aus dem Geschäft mit einem Karren voller
Geschenke, die wurden durchs Fenster ins Festzimmer gehoben. Morgen Kinder
wird’s was geben, morgen werden wir uns freun! Dann das Klingeln, Tür auf: Der
Himmel an Glanz und Wunderkerzen. Gedichteaufsagen. Stille nacht. Großvater
brummte inbrünstig und falsch mit. Inneres Jubilieren; alle Dinge wie
hochpoliert, als strahlten sie aus einem Kern heraus. Man merkte den
Unterschied besonders, wenn man in die Küche hinausging, wo die armen Mägde das
Festessen zubereiteten. Auch im Schlafzimmer gabs nur die gewöhnlichen platten
und glanzlosen Dinge, die man kannte, schäbig stand das Gewohnte fahl in den
Räumen. Aus dem Unscheinbaren rannte man schnell wieder ins Kerzenlicht; aus
der ordinären Kälte in den Glanz. Mama sang wieder ihr : Kling Glöckchen
klingelingeling. Jauchzend, verheißungsvoll. Ja, man muß den Eltern dankbar
sein, sagte Vater, daß sie uns so was Schönes bescheren, fürs ganze Leben.
Vater
las dann Hannes' Lieblingsgeschichte vor: Rosegger, "Als ich noch ein
Waldbauernbub war". Im Südtiroler Wald, Schnee, Äxte, Heimlichkeit,
Zauber. Und das Geschäft mit den guten Sachen. Das aber muß gegen die Feinde
verteidigt werden.
Onkel
A., der Töff, hatte mir einen Miniaturstuka unter den Baum gelegt: Denn wir
fliegen, denn wir fliegen gegen Engel-Land. Engelland Ahoi. Und ich rannte um
den Baum und "flog", ja "flog", Wwwwwww, Wwwwhhhhhwww. Weh
und WHW, spottete Onkel Daniel, der Organist und Vater des Andreas. Aus seiner
Richtung kam es, wo das Klavier stand und wo er eben seinen Dreiklang
anschlagen wollte.
Vater
wurde sehr traurig, als ich ihm sagte, wir seien alle falsch erzogen worden.
Haben
wir also alles nur falsch gemacht?
Ihr
konntet doch gar nicht anders...
Und
das andere, das ihr gewählt habt, ist das etwa richtig?
Wir
konnten auch gar nicht anders...
Der
Bruch in deiner Welt, mein Gott, deinetwegen, in mir war sie ja auch vorhanden,
diese Welt, also der Bruch in unserer Welt hat unseren Konflikt aufgeschoben.
Aber
schuld an unserer Krankheit ist das Vergessen: Ich hob den Ton.
Welche
Krankheit meinst du?
Jenes
sogenannte deutsche Herz.
Aber
Michael, das ist doch keine Krankheit! Wie kannst du so etwas sagen, du, ein
sensibler Mensch?
Ein
Hauch furchtbarer Einsamkeit in der Stube von Clemens M. Stickige Luft,
Medikamentengeruch, Dämmer. Der Kranke abgezehrt, die Stimme rauh und belegt,
der Mund trocken von den vielen Pillen; eine ganze Apotheke da auf dem
Nachttisch; Fläschchen, Flaschen, Sprays, Döschen. Sterben in der Pflegestation
eines Schlosses des Siebenbürgischen Altenheims in Deutschland. Deutschmeister,
klobig, mit Türmen und Wassergräben. Lähmung. Trostlosigkeit. Das Ende eines
unserer besten und aufrechtesten Journalisten. Hier liegt unser altes "Tageblatt",
du siehst die Titelseite, sie gehört zu den Kindheitserinnerungen, immer lag
diese Zeitung auf Tischen, Kommoden, Treppen, Küchenkredenzen; im Baumgarten,
in den Stadtwohnungen, Hausenblaß, Holzmarkt, Baruchhaus – ja, auch auf dem
Siechhof, wo die Eltern wohnten, bevor ich geboren wurde. das
"Tageblatt" mit dem Namen des verantwortlichen Redakteurs, der ging,
als das Hakenkreuz dazukam; es hieß dann plötzlich "Südostdeutsche
Tageszeitung". M. verließ die "kommende Jauche", wie er zornig
sagte. Er wußte, weshalb: "Wir sind die Zukunft, wir sind die Hoffnung
aller Vergangenheit und gegenwart. Und deshalb müssen wir vom Geist, der uns
erfüllt, Zeugnis ablegen..."
M.
hatte auf Friederikes Hochzeit neben dem Wehrmachtshauptmann Meyer-Göring
gesessen. Sonst gabs ja damals kaum Uniformen an der Festtafel, nur Feldgrau,
die Hakenkreuzbinden, Braunhemden, schwarzen Stiefelhosen waren vor allem beim
Ständchen der Feuerwehrmusik vertreten, die Georg dirigierte.
Flüsternd,
kaum verständlich redete der Kranke aus seiner Betthöhle, heiser, hohl, als
käme diese Stimme schon aus dem Jenseits. Und jetzt vom Tonband gehört, ists
freilich auch eine übriggebliebene Stimme, die eines Schattens, der sich nicht
mehr traut, da zu sein:
Ja,
am 9. November 40 war das: höre ich diese Stimme, die sich seit meiner Kindheit
kenne und dabei auch das heftige nervöse Zwinkern seiner Augen sehe: Es war im
Gasthaus zur Traube in Mediasch . Da wurde die "Volksgruppe" unter
dem neuen Capo Andreas Schmidt ausgerufen, ich war als Korrespondent dabei, hab
dann im "Tageblatt" berichtet: Ausgerufen wurde die Volksgruppe unter
Teilnahme einiger Gardistenführer. Und dann kam plötzlich das Erdbeben. Es
zitterte alles. und weil sie so viel getrunken hatten, glaubten sie, es sei ihr
eigenes Zittern, aber es war das Erdbeben. Und als man es ihnen mitteilte, daß
es ein Erdbeben gewesen sei, da waren sie es recht zufrieden, denn nun gab es
einen äußeren, erklärbaren Grund; sie wußten nun, daß es nicht ihr eignes
Zittern gewesen war.
So
sprach Clemens M., der es wissen mußte. Er zitterte nun selbst, der Tod war in
ihm.
Ja,
aber mit einer Hochzeit hatte alles angefangen, fuhr er fort: Mit der Hochzeit
der Christa Berger, Tochter des "Schwabenherzogs", des Chefs des
SS-Ergänzungsamtes. Gottlob, ein schlauer Schwabe. Der hat diese SS-Armee
aufgebaut. Weil sich die Wehrmacht weigerte, der SS genügend Wehrpflichtige zu
überlassen, verfiel er auf die geniale Idee, die Volksdeutschen einzuziehen, so
etwa anderthalb Millionen Rekruten wollte er. Und wir hatten die ehre, die
ersten zu sein. Und diesen Ehrgeizling, den Andreas Schmidt, der war ja so eine
Rotznase, keiner kannte ihn, war Student in Berlin – dein Onkel T. hätte dir da
einige erzählen können, er verkehrte ja auch in diesen Kreisen damals – diesen
Schmidt also nahm sich der Schwabe zum Schwiegersohn. Denn die Fama geht dahin,
daß der sich mit der Tochter eingelassen hatte, und so wurde er Schwiegersohn
des Generals.
Jedenfalls
zirkulierte bei uns damals der sinnige Spruch: "Hitler von Berchtesgaden –
Schmidt von Bergers Gnaden!"
Das
war eine schöne Hochzeit im Elternhaus der Christa Berger in Stuttgart. Papa
Gottlob wohnte nobel. Es traf sich gut: Stuttgart war die Stadt der
Auslandsdeutschen. Berichtet wurde nicht viel über diese rauschende
reichsdeutsche Hochzeit, Blut zu Blut, Kuß zu Kuß, Speichel zu Speichel. Nicht
sehr viel später wars dann: Erde zu Erde, Staub zu Staub, Asche zu Asche. Das
Glück dauerte nicht lange. Es waren kaum 1000 oder 2000 sächsische
SS-Freiwillige eingerückt, die ersten gefallen für Führer und Reich und für
Schwiegervater Gottlob, da starb auch die junge Frau – an Schwindsucht.
Nein,
es war keine kirchliche Trauung. Die glauben also nicht an Gott, flüsterte man
bei uns. Dein Großvater, der Kirchenkurator, wußte nicht, was er dazu sagen
sollte, denn er schwor auf seine "Volkskirche".
Und
noch schlimmer wars dann beim Begräbnis, fuhr Clemens fort: Das Glück hatte ja
nicht lange gedauert. Vielleicht hatte der Alte auch gewußt, daß die Christa
Tuberkulose hatte, im letzten Stadium, fast wie die Kameliendame, noch ein krankblühendes
Rosenjahr auf Wangen und Lippen, aber schon der Todeskuß. Gestorben ist sie in
Kronstadt. Sie bekam einen Leichenzug, wie man ihn in Siebenbürgen bisher nicht
gesehen hatte, mit einer Reiterschar als Eskorte, uniformiert. Die Grabzeremonie
versah nicht der Bischof, sondern ein gewisser Kaufmes, ein Kapo der Wirtschaft
und der Partei. Und noch schlimmer: Der Bischof war mit dabei, aber in Tracht.
Ja,
ich erinnere mich noch genau, wie Daniel und Karl, dein Großvater, stritten:
Was
sagst du da zur Haltung unseres Bischofs, Karl?
Daniel
war selig und lief behende im großen Speisezimmer herum: Habs ja immer gesagt,
dat äs nichen Chrest, mej Läwer. Um die Kirche geht’s, immer um die
Volkskirche. Der Bischof Staedl aber in der Prozession: In Tracht. sonst nix.
Daß ich nicht lache. Heidnisch ist die großdeutsche Madam verscharrt worden.
Darauf
dein Großvater erstaunt: Nicht in seinem Bischofsornat also, dat verstehn ech
nett. Ohne Kretz, wä et sich gehiert. Ungehörig das!
Er
schwieg, ließ Daniel in die Luft reden.
Die
Madam also, das arme Mädel, die junge Frau aus Stuttgart; ja, schwäbisch hat
sie geschwätzt. Und wurde mit dem schönen Tersteegenlied hinabgelassen in die
siebenbürgische Grube. Wenigstens soviel, murrte dein Großvater:
Ich
bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesu offenbart; ich geb michhin dem
feien Triebe, wodurch in Wurm geliebet ward; ich will anstatt an mich zu
denken, ins Meer der Liebe mich versenken.
So,
so, murmelte Daniel.
Das
deutsche Herz war ein kaltes Herz; wir trugen das Chaos in uns, das war nicht
außen!
Als
Vater an der Ostfront war, wurde er zweimal totgesagt; aber er kam wieder. Ein
Jahr nach jener Parade mit Schellenbaum (den manche für den Lebensbaum hielten)
wurde er vermißt gemeldet. Die Kinder in der Schule sahen mich scheu an; die
Lehrerin behandelte mich zärtlich.
Es
ist ein Schnitter, der heißt Tod
Jetzt
wetzt er das Messer/ es schneid schon viel besser...
So
sang ein Chor. Ein gräßliches Lied.
Um
sich gegen den unaufhaltsamen Tod zu schützen, gibt es Mittel. Zum Beispiel den
Heldentod. Ich weiß, Vater, du wolltest nie ein Held sein. das hat mich immer
sympathisch berührt. Du wolltest überleben, du wolltest für uns da sein und
wieder nach Hause kommen.
Das
ist viel.
ist
das alles?
Stille
Nacht, heilige Nacht. Die schönen, schönen Weihnachtsfeste.
Nur
Mutter war meist sehr unzufrieden. Trotz allem Glanz. Es war eben nicht ihr
Glanz.
Sie
sagt: Es stimmt: Unsere Generation war entmündigt. Überrascht hob sie dann den
Kopf und nickte: Entmündigt. Wir durften nicht reif werden.
Ich
war davon merkwürdig berührt. Aber die Zeit ist vorbei, da sie noch Autorität
vorspielen mußten. Jetzt treffen sie sich mit den Enkelkindern. Jetzt sind sie
aus dem Raum entlassen, wo sie Haltung wahren mußten. Jetzt sollen wir ein
wenig die Eltern unserer Väter und Mütter sein. Wenn sie in Rente gehen, zuerst
mit Angst, mit einem Gefühl des Sich-Weigerns, dann aber still ergeben, merken
sie, wie schön es ist, kindlich zu sein. Uns nichts mehr vormachen zu müssen,
was sie nicht sind und nie waren.
Wir
führten die Befehle wider Willen aus in der Kette der Geschlechter, wie Vater
vorsichtig sagte, als ich ihn fragte, weshalb er mich eigentlich geschlagen,
seine Kinder geprügelt hatte. Und nach dem ersten erstaunten: Ich?! kam dann
das: Nein, gewollt hab ich es von mir aus nie! Gezwungen hab ich mich dazu.
Denn: Wer sein Kind liebt, züchtigt es!
Aber
dann fühlte er sich doch veranlaßt, seinen Vater zu verteidigen, als Mutter
sagte: Unter Kuratel haben wir schon ein wenig gestanden! Ja, unter Kuratel.
Mit
schief gelegtem Kopf, gerührt lächelnd bei der Erinnerung, meinte er: Wie hast
du dich doch gefreut, als mein Vater die Kinder neu eingekleidet hat zu
Weihnachten. Das war noch im Hausenblaßhaus, vierzig muß das gewesen sein.
Meine
eigene Stimme: Es geht um diese bestimmte Art, wie wir gelernt haben zu
handeln, wie wir gelernt haben, zu sein...
Unangenehm
diese Stimme, fast keifend, nehme mir vor, beim nächsten Mal ruhiger zu sein.
Beim nächsten Mal? Es gibt kein nächstes Mal. Vaters Stimme ist nicht zu
erneuern, sie liegt ganz fest für immer und auch sicher "für alle Ewigkeit"
in der Kassette: durch die Treue, durch die Pflichterfüllung unserem Volk
gegenüber, sagt er. Und Mutter fällt ihm (wie immer) ins Wort, läßt ihn nicht
aussprechen: ...sind wir das geblieben, was wir sind.
Sicher
sind wir Sachsen nicht alle "reinrassig". Viele Dorftrottel. Durch
die Inzucht? Nervattich alle. Schreikrämpfe oft. und die vielen Sonderlinge.
Daher also die Naziwut bei manchen, wie bei Andreas?
Ja,
weißt du noch? höre ich Mutters Stimme: Onkel Hans' Ordination, vis-à-vis von
unserem Hausenblaß-Geschäft. Im gleichen Haus hatte der Zahnarzt Schuster seine
Ordination, da geht man unter einem dunklen Tor durch, im Hof hinten ist der
große Speicher des Kolonialwarenhändlers Hesshaimer & Co.
Ja,
sag ich, da solls Mäuse in Mengen geben, sogar von weißen Mäusen hörte man.
Wenn man die knarrenden dunklen Stiegen da raufgeht, muß man sich zuerst
überwinden. Herzklopfen, poch, poch als Kind.
Unsinn,
da fühlt man sich bei Onkel Hans doch geborgen. und krank waren wir auch kaum,
höchstens mal eine Grippe. Dem Otata tropfte immer die Nase. Da gabs aber
andere Fälle bei uns.
Stell
dir vor, ich bin in der Baiergasse dem Birä-Will begegnet, erzählt Mutter ganz
naiv und kichernd: dem Einwenigirren – der konnte, wenn ihn jemand ärgerte mit
seinem phantastischen Können in hohem Bogen spucken, mit Eleganz und Präzision
konnte er dem anderen aufs Ohr spucken.
Und
dann stand sie da, ein wenig hilflos in der entstehenden pause, war aber sofort
wieder da, auch die Pause nützend, wie auf der Bühne, das kann sie, mit
verschmitztem Gesicht und doch wieder abwesend, als wäre ein Spieler in ihr,
ein wenig zwanghaft, der Körper angespannt, die Muskeln hart: Jetzt will ich
euch zeigen, wie die Milli tanzte, die Stadt-Irre, zum Libellenlied, zu dem wir
als Backfische auch tanzten, gemeinsam im Reigen:
Froh,
wie die Libell am Teich
Froh,
wie die Libell am Teich
Froh
macht sie und leicht und reich
Braucht
nicht zu borgen, braucht nicht zu sorgen.
Froh,
wie die Libell am Teich
Froh,
wie die Libell am Teich...
Unendlicher
Kehrreim und Singsang. Sie hebt die beiden Hände wie bei einem Ritualtanz der
Derwische, und immer ein Bein abwechselnd geschwungen, vor und zurück, vor und
zurück, und kann sich kaum halten vor Lachen. (Nun hat sie also nicht nur
erzählt, sondern sogar gesungen und getanzt. Und kann deshalb lachen.)
In
den besten Familien kam es vor, erzählt Mutter: Ich sehe sie noch vor mir,
diese Milli, allen ein Greuel. Das in großen Strähnen wild wuchernde Haar unter
einer großen schmuddeligen Baskenmütze zusammen gezwirbelt und versteckt,
triefendes Auge, hängender Kopf: schlechtes Erbgut! Von der allgemeinen
Inzucht; Suff, Sünde wider das Blut. sogar der Binder Heinrich, des Bischofs
Enkel, war ja blöd, als hätte ihn Gott geschlagen. die alte Tante B., die hatte
zwei Söhne, beide blöd. Vater wollte einmal ein gutes Werk tun, lud den
Heinrich zu Weihnachten in die Baiergasse ein, es war schrecklich, was der dann
tat. Ihr wißt es ja. Was nützte es, daß er phantastisch mit Baukästen umgehen
konnte, wahre Wunder zusammenbaute, er war "surkich", verwahrlost,
hat sich dann später überhaupt nicht mehr gewaschen und statt aufs Klo zu gehen
sich auf den Bettrand gesetzt. Die Sanitäter haben ihn dann abgeholt und
eingeliefert. Seine Tanten hatten ihm Vorhaltungen gemacht, und denen hat er
eines Tages ein Telegramm geschickt: Abort geputzt, Heinrich.
Plötzlich
stand sie auf, tanzte wieder vor dem Tisch, hob den Kopf, wackelte damit: so
hat die verrückte Grune Mill zuhaus ihr Regenschirmchen gehalten und getanzt:
Meschand, Meschand gesagt. Solche von Merkwürden, die gabs in unserem
Städtchen. zum Beispiel auch den Schnich und die Schnichin, die Kirchendiener,
die standen auch bei unserer Hochzeit vor der Kirchentür, nickten mit dem Kopf
und sagten im Chor: Schnich! Sie nickten, machten einen kleinen Diener:
Schnich. Was heißen sollte: "En hieschen gaden Dach wänschen ech!"
Mutter
fletterte wie ein junges Mädchen, drehte Pirouetten und sang beschwingt:
Bildschön, ja bildschön war die Milli mal gewesen, mit sechzehn, siebzehn
Jahren ist sie übergeschnappt, die arme Milli, wackelte mit dem Kopf, konnte
nicht mehr richtig sprechen, nur lallen, und ließ viel Speichel in dünnen Fäden
zu Boden fallen, daß es alle ekelte. So hatte sie immer eine Silberspuckspur.
Doch Klavierspielen konnte sie weiter, spielte fabelhaft, ibernatirlich, als
würde sie einen Traum bedienen, als spielte jemand aus ihr. Leider sagte man
ihr nach, sie habe einen jüdischen Großvater oder Urgroßvater gehabt, eben de
Ballegrieß wor jiddisch!
Aber
sie war noch für etwas anderes berühmt: Sie hatte eine Schmetterlingssammlung,
eine ganz berühmte, von den Vorfahren geerbt. Solch eine Schmetterlingssammlung
gabs auch bei Onkel Daniel und Tante Cäcilie im Mühlenham, und Andreas ging
jeden Sommer Schmetterlinge fangen mit einem Netz aus Gaze, wie eine Maske oder
ein Verband. Und die gefangenen Flutter wurden dann mit Stecknadeln aufgespießt
und im Glaskasten aufgereiht; sie hingen über der alten Kommode im Mühlenham,
diese verglasten Kästen. abends fing man die Totenköpfe, die waren ganz groß,
und die schrien auch, ja, sie konnten beißen, wenn sie in der lauen Nacht
hereinflogen, sich verirrt hatten. Vorher hatten sie sich vielleicht wie Motten
um die Petroleumlampe getummelt, gesurrt, geflattert, und manche verbrannten,
angezogen vom Licht. Bist du Schmetterling verbrannt, zitierte Onkel Daniel die
"Selige Sehnsucht": Der Tod sei nur eine Verwandlung wie Frühjahr,
Sommer, Herbst und Winter. Daher müßten Raupen sterben, damit solch eine
"lebende Zartheit", die Schmetterlinge, entstehen könnten. Überall
der Tod, der so traurig stimme und mahne, mahne, mahne, so daß wir uns immer
auf diesen Abschied vorbereiten müßten. flink lief Daniel zum alten
Bücherschrank und holte die Bibel, schlug mit nervösen Fingern das
Johannesevangelium auf und las mit hoher, ein wenig heiserer Stimme: Ich sage
euch, wenn das Weizenkorn auf die Erde fällt, ohne zu sterben, bleibt es
allein, wenn es aber stirbt, wird es Früchte bringen.
Unsinn,
sagte dann Andreas: Diese jüdische Bibel. Wir überwinden auch den Tod! Wir
herrschen mit ihm, durch ihn.
Wie
herrschen die! herrschte Daniel seinen Sohn dann an. Der Sanftmütige konnte
dieses neue "Saubere" nicht ertragen (war er vielleicht selbst e
Judd). dieses Saubere, Gesunde, wie die frischgestutzten, glatt ausrasierten
nacken, die konnte er nicht leiden. Er selber hatte eine Künstlermähne um den
Glatzkopf , Tonsur und Heiligenschein. Dieser glatte und geleckte Scheitel, der
nun in Mode war, wie der Scheitel und die Seele des Tausch Dolf und der
Haarknoten der Frauenschaftsführerin Kitz, so sauber wie die Nullerköpfe der
Kinder, so rein wie die kornblumenblauen Augen, die hell in die sächsische Welt
schauten, das ging ihm auf den Geist. Kornblumenblau sind die Augen der
Frauen...
Und
dann hieß es, jede deutsche Mutter schenkt dem Führer ein Kind. Bekannt ist der
Spruch einer Bäuerin: Kommt der Herr Fihrer zu uns oder missn mir zum Herrn
Fihrer fahren?
Mädle
ruckruckruck an meine grüne Seeite...
Heilig
Vaterland in Gefahren,
Deine
söhne sich um dich scharen.
Heilig
Vaterland, Heilig Vaterland...
Das
stinkt nach Menschenstall und blonder Zeugung im Gewölle, volksrein,
volksartig, volkhaft, völkisch, spottete Daniel: Der Volksschoß ist fruchtbar,
daraus kriecht es... und die deutsche Mutter öffnet den Schoß für den Schlappschwanz
des Führers; Millionen Kinder, Millionen Schafe für ihn. Kanonenfutter. Sieg
Heil. Alles Kranke, entwurzelte, Unblonde, Feuchte ausmerzen, weg mit den
Meckerern.
Entnordung,
sagte Andreas, ist Bastardisierung. Schlingpflanzen, Phalusse, Schlangen des
Urwaldes. Lichtbringer Zeus, ordnender Wille des Staates. Zucht, Zeus und Mann.
Kein
Wunder, daß die Gesundheit so wichtig war! Großvater auf der blauen Veranda
denkt es zum x-ten Mal: Tief drinnen im Herzen ist der Befehl.
Es
regnet, Trommeln des Regens, an den Fensterscheiben rinnen lange Wasserfäden
herab; als wäre die Welt in Tränen erstickt, denkt er: Diese Heißsporne wollen
ja das Beste, die Erhaltung; aber langsam, nur langsam baut sich die Welt. eins
nach dem andern, nichts überspringen. Nichts übertreiben, kurtsch äs des
Mänschen Liewen, aber lang dauert die Tradition. Vor allem leisten ja unsere
Nachbarschaften bei Gesundheits- und Wohlfahrtspflege große Hilfe. Weingeist-
und Tabakfreie Sonntage...
Ich
erinnere mich: "Sie" gehen im Garten spazieren, Daniel, Großvater,
Andreas. (Dazu kommt noch Meyer-Göring mit dem Cello. Celloton wie eine Rose.)
Die Frauen trinken Kaffee und stricken. Oder hat Mutter Kränzchen heute? Kühler
Schatten auf dem Steintisch unter den hohen Tannen. Duft wie aus einem Harzparadies.
Die Oma singt mit ihrem brüchigen Stimmchen ihr Lieblingslied: Kommt ein Vogel
geflogen...
Allerdings
hat es bei uns Paarungssiebung gegeben, die der losen Durchmischung des Blutes
entgegensteht. Und hier ist dann die Frage vielleicht am Rande vertretbar, ob
es sich lediglich um eine Gattenwahl nach äußeren Gesichtspunkten wie Besitz
oder gesellschaftliche Stellung handelt oder ob in diese Grenzen, die so
gezogen werden, auch bestimmte erbliche oder blutmäßige Zusammenhänge
eingeschlossen werden müßten: Der dunkle Instinkt des Blutes ist es, der die
Paare aus den Tiefen des rassischen Gewissens zusammenführt!
So
ist es! hört man Tante Friederike vom Klavier aus dem Hintergrund sagen.
Heute,
wo wir in einem harten Schicksalskampf stehen, ist gegen die Inzucht allerdings
etwas zu unternehmen; es käme nur eine Durchmischung mit Reichsblut in Frage.
Und das muß freilich sehr gefördert werden, viele sind dem nachgekommen. Die
Frage ist deshalb so wichtig, weil ein bedauerlich hoher Prozentsatz an Stadtblöden,
Dorftrotteln und Schwächlingen das Blut weiter verunreinigt. Gegen sie müßten
besondere Maßnahmen erfriffen werden.
Was
wollt ihr mit ihnen tun?...
Ich
sehe alles vor mir, ich sehe ihn, den Onkel Andreas in seiner SS-Uniform mit
Tellermütze und Totenkopf. Jaja, Andreas kam immer wieder auf Heimaturlaub, er
war verdächtig oft zu Hause; diesmal war es ein Zigeunertransport, den er
begleitet hatte, und er redete auf der Steilau im Sommerhaus beim Frühstück
schon von der "Auslese", und daß wir stolz sein müßten, Siebenbürger
Sachsen zu sein.
Aha,
esi äs dat? Ausgelesen? Sagte der Mischonkel grinsend, nachdem er eine kurze
Arie von sich gegeben hatte. Mio cuor... Siebenbürger Sachse zu sein, branjt jo
än irschter Rah wirtschaftliche Vorteile. Na, gliwst et vielleicht nett?
Bediente sich auf der blauen Veranda, die fast wie eine Lugesch war, wo man
beim Frühstück saß, vom Lakes, denn die Ladewerch, das Pflaumenmus, schmeckte
ihm nicht, und schmatzte.
Awer
Misch, entrüstete sich die Ami wieder einmal.
Der
aber tief ungerührt: Wohlhabende heiraten nur Wohlhabende in unseren Dörfern,
näkest äs et andersch, das ist die wirkliche Auslese. Und genau so ist es in
der Oberen Baiergasse und in der Cornesti, wo die ormen Danner liewen, rief er
zum Fenster hinaus: Ba den Purligaren, wo es nach Bohnen und Kraut, Bienen uch
Krokt, nach Angebranntem, nach Schweiß, no Schwieß uch Paleokes, uch et komm
Sträzel git, nach Pisse riecht und nach armen Leuten, wie hier unten in der
Tornaz und im roten Haus, wo der Ruch uch der Ruß den Odem benitt, wo die arme
Lörinzi wohnt mit den sieben Rangen, dem Gekindsel, der Milch und den Kotschen,
der weißbraunen weichen Kinderscheiße, die überall hingeschmiert ist, die Wände
von den drao Murrentuppes, den Dreikäsehochs de mazen uch den zwe Mazkäddern,
den Heulsusen, dä ständig fluren uch scheißen! Diese weiche Farbe! Und auf der
Lehmkell, de Ziganie, mät zähn fafzähn Purdis, ohnen Owendämmes; naßkalte
Stuben mit Kanonenofengedubber und Strohsäcken, wo es nichen Schumbäsken,
nichen Hiebes git af der Scheif und nor en Ramasuri, wo die armen Frauen
genommen werden von nach Pale stinkenden Männern, dä iewen aus dem Letjew kun,
Gott verfluchend und kotzend, ihre Frauen wild verprügeln; das Inferno und dann
die Lieb, verflachter Heangd, aus der dann das Gekindsel kommt, neue
Arbeitstiere und Frühaufsteher, die sich beim ersten Hahnenschrei Nacht und
Sand aus den Augen reiben müssen, wenn der erste Morgenstreif über die Buner
Berge streicht und reitet gen Osten, wo Ferne zu sein scheint und Entkommen!
Und
man war sich ja schon einig, daß es in unseren warmen Stuben Gottseidank feiner
zugehe, das Inferno sei gezähmt, nur Prüdheit und Jähzorn... Ausbrüche...
Ängste.
Aber
es darf keine Zersplitterung geben, nein, das wäre eine Sünde wider die Weltordnung,
ließ sich nun der Andreas vernehmen, der nur noch Reichsdeutsch sprach: Einheit
ist alles. Krankheit muß ausgemerzt, aus dem gesunden Körper herausgeschnitten
werden. Eiserner Zusammenhalt, das ist alles... dies Gerede, det Schkalieren,
von den tameschen Kritikastern angezettelt, muß aufhören.
Sah
mit schiefem Blick auf den Mischonkel, auch der angekränkelt von den
Asphaltjuden in New York, Aufwiegler, Juden und Kommunisten, Asphalttreter, die
vom Kampf zwischen Arm und Reich faseln, Bazillen sind das.
Kritik
in jeder Form, schrie Andreas los, ist Zersetzung, Schändung des Volkskörpers.
Der Führer Adolf Hitler hat das schon in seinem unsterblichen Werk "Mein
Kampf" prophetisch vorhergesehen
und beschrieben, wer den Volkskörper vergiftet: Strauchdiebe und
Pouletverkäufer, Schädlinge, Irre und Kranke, Hand in Hand mit den
Geistesakrobaten und Tintenfritzen, doch es wird gelingen und zwar den
heldenhaften Musketieren, die sich einnistenden Bazillen zu vernichten.
Ich
hatt' einen Kameraden, einen bessern findst du nicht, die Trommel schlug zum
Streite, er ging an meiner Seite, der gute Kamerad. So wie Onkel Willi, der an
der Spitze seiner Kompagnie mit gezogenem Degen eine Anhöhe stürmte und im Vierzehner
noch in Galizien heldenhaft gegen den Feind im Dienste des Vaterlandes fiel!
Die Grießi hat ihn rufen hören: Mother, Mother, immer leiser, bis der Heldentod
ihn zu sich nahm!
Und
so auf diese Art schrieb auch hier sich die Zeit voran. Mit großen Ereignissen.
Sieben jahre gingen ins Land, als könnte alles ewig, ewig dauern, die Zeit nur
Großes bringen.
Wenn
die Sonne unterging, die nacht kam, wurden alle weich. Georg blies Trompete aus
den Wiesen. Alle waren gerührt. Es klang weit ins Land: behüt dich Gott, es wär
so schön gewesen. Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein. Oder: Der Mond ist
aufgegangen...
Nur
im Familienfoto stand arm, weil unwahr, die Zeit still; wir aßen im Sommer
Weinsteinkraut (Vater sagte: Sehr gelungen). Nachher eine kalte gelbe Creme,
aus dem eiskalten Keller geholt, zehn Treppen hinab ins Feuchte: Eisig wehte es
uns an... aber schön. In der Küche des Sommerhauses – ein Ziegelboden; es roch
kräftig nach Rauch und Petroleum. Alles war umgeben von einer deutlichen
Körpernähe (auch Vater roch stark nach Zigaretten), alles war klar in die Welt
gestellt und doch sehr rätselhaft, mit Rändern, die sich im Dunkeln verloren,
Schatten warfen. Wie neu und voller Überraschung; Angst. Grasspitzen im Hirn,
Holzscheite im Schopfen; nur noch hier anwesend: die Bretterwände
bräunlichschwarz. Es roch scharf nach Klo, nach Karbolineum, ich würde am
liebsten durchfassen ddurch den Text.
In
der Erde aber die ekligen Raupen. Daraus entstehen Maikäfer, sagte Großvater:
Weiße Engerlinge, wie die Regenwürmer in der Erde. Mit dem Spaten erschlagen
oder mit der Hacke.
Maikäfer
flieg, Der Vater ist im Krieg, Die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist
abgebrannt. Maikäfer flieg...
Roszika
sammelt mit. Nach dem Abendessen steht sie in der Küche, wäscht ab. Darf ich
unter ihrem Szeklerrock sitzen? Geklirr von Tellern und Gläsern, Plätschern von
Abwaschwasser. Unter dem Rock riecht es nach Zwiebeln, Lauge und Seife. an der
Glastür sind rot und gold und grün bemalte Fensterscheiben: Blumenornamente,
Engelflügel. Das ist schön. aber vom Gang... eine Tür ins Band. Ein schwarzer
Riemen, mit dem wird das Rasiermesser geschärft, hängt am Haken. Gehorchen, wer
nicht folgt und gehorcht – witsch. Wer nicht... witsch, witsch. wer nicht. daß
der Hosenboden raucht. Wer nicht. Bis du Wasser verlangst. Schreien und Weinen.
In der Schule der Lehrer Finf, gelber Stock, ein Rohrstock. Wer sein Kind
liebt... Wer sein Kind. Wer. Bis du Wasser verlangst. Züchtigt es. Im Garten
wer nicht; witsch. Die Schwertlilien sind trotzdem noch da, auch die Sonne.
Liebe, liebe Sonne. Komm. Bis du Wasser verlangst. Rotz. Weh. Tränen. Hab Sonne
im Herzen. Es geht alles vorüber.
Es
tanzt ein Bi ba Butzemann
In
unserem Kreis herum, herum.
Er
rüttelt sich, er schüttelt sich,
Er
wirft sein Säckchen hinter sich.
Es
tanzt ein...
Was
hatte man da alles in uns hineingesetzt, auch in mich! Körperertüchtigung!
Pficht, gehorchen. Keine Widerrede! Ich werd aus dir noch einen anständigen
Menschen machen. Bück dich, bück, hab ich gesagt, Hosen runter, sofort, na
wirds bald! Nein, neuin, bitte, bitte nicht! So, jetzt bück dich, so, höher …
und jetzt gehst du und holst den Stock, wirds bald. So, jetzt… bück dich,
höher… höher--- Witsch. Au, au au…
Und
wahrscheinlich stand dem Schläger dabei der Schwanz, erregt war er, haute, und
atmete schwer, wie beim Ficken.
So
wars auch, wenn sie im KZ eine Frau durchpeitschten, festgeschnall auf dem Bock
mit nacktem Gesäß, dem cshönen großen Mindsgewächs… und so mancher holte sich dabei heimlich einen
runter, während sie schrie, weinte, wimmerte…
Und
sgar Misch erzählte von der Prügelstrafe auf manchen Schiffen, reauhe
Matrosensitten?
Ist
es nicht so, höre ich plötzlich Marthas Stimme: daß auch dich ein auf dem
Prügelbock hochragender üppiger Hintern, weiß wie ein Gesicht ohne Augen,
reizt, der Mund zwischen den Beinen schwarzgekräuselt und der Spalt wie ein Wunde
rötlich klaffend... Wimmern, und Schreien, wenn der Stock niedersaust, Weinen der Gestraften erregt mich, das geb ich zu
Und am liebsten würde ich auch deinen nackten Hintern so sehen und verhauen,
ja.…
Sie lachte verlegen, sah mich aus ihren
Augenwinkeln so an, daß ich rot wurde, und
wie ertappt zu Boden sah; dann aber
ließ sie überraschend den Rock fallen, stand splitternackt und gebückt vor mir, dem Schamlosen da, daß der nicht wußte,
wie ihm geschah und er aus allen Himmeln fiel. Ein Blitz. Martha, ein schöner
Fleischbogen, laut lachend; verstummte
dann, selbst überrascht, sie hatte ja "zurückgesehen", und erkannt,
wie ihre zwei ´Gesichter´ geisterhaft nebeneinander standen, zwei Münder, rot und schwarz, halb geöffnet,
die Beine wie beim Bock-Springen in der
Turnhalle wartend gespreizt, und sie atmete nun plötzlich selbst schneller; also auch sie... ? dachte
ich, da ich ja nicht wußte, wie ich diese plötzlich so körperlich nahe Erinnerung deuten sollte, denn so wie ich sie kannte,
hätte sie sich wehren, hätte sie arg böse werden müssen bei meinen Gewaltphantasien.
Als dieser Kerl, der ich selbst bin, den
zweiten Mund ihrer V, die wie eine reife Frucht unter dem weißen Mond
hing, küssen wollte, stand sie schon
wieder aufrecht da, und hatte den Rock hochgezogen, als wollte sie den
japsenden Mann narren und strafen: "Nun erzähl schon, Henkersknecht",
spottete sie: Ich bin gar nicht fassbar. Die Wut hat bei uns ganz andere Gründe: Schönheit
ist die einzige Waffe, und der Arsch gehört dazu! Nun komm schon, mach den Spruch deiner Stadt wahr: Kannst mich
mal! Und Leck tief vor deinem Untergang! Rache
ist süß! Ganz anders als bei der Báthory?
Auf dem Sofa. Auf
dem Fußboden lauert er. Schreit. Flaisch, Flaisch. Bück dich. Bück dich. Bis du
Wasser verlangst. auf dem gelben Schrank klirrt Vaters Violine. Ganz dünne
Saiten. Witsch. Flagiolett.
Wenn
ich an mein Bänklein knie
will
ein bißchen beten. Witsch.
Steht
ein bucklicht Männlein da,
fängt
als an zu reden: Bück dich. Witsch.
Liebes
Kindlein, ach ich bitt,
bet
fürs bucklicht Männlein mit!
Ach,
ich höre sie noch immer schreien, die armen Schweine in der Nachbarschaft, wenn
sie abgestochen wurden, ihr Blut langsam rausfloß in eine Schüssel, bis sie tot
waren... Vögel und Lämmer, Hühner und Tauben, brachen ihnen das Genick wie den
Hasen... Als Kind hatte ich Angstträume, wunderte mich, machte große
Kinderaugen, wenn ich den Leuten zusah, saß oben auf einem wackligen Gang, von
unten aus dem alten, mit Katzenköpfen gepflasterten Hof stank das Klo herauf.
das eiserne Geländer des Ganges war von der Sonne warm, das Holz auch, und roch
so gut wie das eingelassene Holz der Brücke über den Bach oder die Holzscheite
und die Balken auf dem Dachboden, da konnte man kaum atmen, eine Biene summte,
zwei... Unten aber am Schopfen und bei den Hühnerställen stachen sie mit einem
langen Messer in den Hals des Huhnes, durchschnitten ihn gedankenlos, dieses
wunderwerk war ja nur ein Huhn! Und das Huhn gackerte wild, das Blut spritzte,
das Huhn lief ohne Kopf im Hof herum, bis es ohne Kopf eingefangen wurde. Blut
rann in eine Schüssel, und ich war erstaunt, wie dumm Worte sein konnten.
"Huhn", "Laufen", "Holz". ich weinte und lief in
die Küche zu meiner Mutter, verkroch mich mit dem Kopf in ihrem Schoß. Angst
vor Schmerz und Tod.
War
das ihre, unsere Religion? Handwerk des Tötens?
Religionsunterricht?
Na sieh mal an... Wer kommt da hoch? Petrenz, der Lehrer, "Herr
Professor", ja, der ließ uns in Reihen antreten, wenn wir den Scheißkatechismus
nicht auswendig hersagen konnten. Vor der Bank haute er mit dem Rohrstock auf
den gespannten Hintern, Fleisch, Fleisch verlangte er, und der Rohrstock sauste
herab, witsch... daß es raucht, heiße Hosenböden. Vielleicht, weil alle
Versuche, mit dem Anfangsunrat fertig zu werden, gescheitert waren, an der
eigenen wie an der äußeren Natur wohl.
Und
der Größenwahn, so schrieb Andreas in sein Tagebuch, sei ihm zeitlebens zum tödlichen Unglück geworden, schrieb es in
sein heimliches Tagebuch, das nach seinem Tod gefunden wurde, und da verehrte
er heimlich die Sonderkommandos, wie der Turnlehrer auch, der uns stundenlang
Kniebeugen machen ließ, auf dem Tisch meist, bis wir herunterfielen.
Unsere
Existenz ist eben immer und überall eine tödliche Existenz. heiße Hosenböden
noch harmlos, auch wenn das tief hinein schnitt, das "Wort" sollte
nicht vergessen werden. Mädchen bekamen die Schläge auf die
"Kniewel". Hier also wurde der irdische Vater mit jenem anderen
"himmlischen Vater" vollkommen vertauscht, und eine bessere Garantie
zur Erhaltung der mores gab es gar nicht (Ich will dich mores lehren, du Limmel!).
Gelblichbraune
Fotos, Rahmenheimaten, in denen die alte Aura aufscheint, mich hineinzieht, als
gehöre ich zu den vielen Toten: Großvater als stolzer k.u.k.-Offizier,
Friederike und Mutter als Röschen und Vergißmeinnicht, Oma in Tracht,
aufgebockelt mit kostbaren Nadeln, Spangen, Perlen und Stickereien:
Bürgertracht, in der Hand das Gesangbuch mit Elfenbeindeckeln und einer Rose
aus dem Jahre 1887. Mit niedergeschlagenem Blick, züchtig und ein wenig
unsicher neben dem selbstbewußten herrschsüchtigen Mann in Schwarz und mit Bärenfellmütze.
Von den Vorfahren meines Vaters kein Zeichen, sie waren schwächer.
Auf
dem abgeschabten uralten Ledersessel saß die Ami und sang unter dem lustigen
Lampenschirm mit Glasperlenmähne, auf der Kredenz die Spieluhr mit
gedrechselten Marmorbeinchen, lauter Melodien: Üb immer Treu und Redlichkeit
bis an dein küüühles Grab.
In
der Klosterkirche aber sangen sie aus dem Gesangbuch: Er will uns dadurch
ziehen/ zu Kindern, die da fliehen/ das was ihm nicht gefällt./ Er will den
Trotz uns brechen,/ den Eigenwillen schwächen/ und töten böse Lust der Welt.
Und
im Stundturmmuseum gleich neben dem Paulinenloch, dem Geburtshaus des Vlad
Tepes, hing ein großes Bild des Marsyas. Und der Großvater sagte: sieh, der
Richter, der muß die abgezogene Haut des ungehorsamen Sohnes, den er zum Tode
verurteilt hat, tragen!
Und
im Musikverein sang die Ami mit ihrer schönen feinen Stimme, die mich "Weißt
du wieviel Sternlein stehen" gelehrt hatte, das Gesangbuchlied: Und wenn
ichs recht erwäge,/ sind es nur Liebesschläge,/ womit er uns belegt; nicht/
Schwerter sinds, nur Ruten,/ mit denen er zum Guten/ die Seinen züchtiget und
schlägt.
Dieser
Vater im Himmel war schon eine Wucht und enorm wachsam; ich stellte ihn mir
vor, wie er nachts zum Fenster reinschaut, so etwa hinterm Vollmond, da sah man
ein riesiges weißbärtiges Gesicht; und so betete ich brav, vor allem, als Vater
im Krieg war, das Vaterunser und dann: Lieber Gott, laß unsern Vater wieder
gesund aus dem Krieg heimkommen; und mach, daß wir alle, alle gesund bleiben.
Glaubte auch daran, daß es helfen würde und war überzeugt, daß Schreckliches
passieren mußte, wenn ichs mal vergaß.
Petrenz'
Lieblingsautor war "unser" Heinrich Zillich, der Geschrieben hatte:
"Ich
habe einige Jahre lang die Lebensgeschichte meiner Schulkinder verfolgt. Eine
Bücherei wurde daraus. Ich wollte sehen, wie sich Familien sondern und
verkreuzen, wie es dem Deutschen hierzulande ergeht. In den deutschen Dörfern
und in den alten städtischen Familien ist es sauber und klar, aber wo die
Deutschen nur vereinzelt sitzen, gehen sie unter.
Nachforschen
nach soviel deutschem Untergang? Seitdem
ich die deutschen Truppen sah, bin ich ruhig. Was sind die großen Heldengesänge
der Vorzeit? Gegenwart ist es... Unsere Gegenwart. Wir weinten und lachten,
jubelten und beteten, als wir sie sahen. Du bist im Krieg ein Mann geworden.
Ich könnte meinen alten Lehrstock aus der Lade nehmen und jeden durchprügeln,
der im Hinterland ein einziges böses Wort gegen die Soldaten sagt. Ihr werdet
einmal zurückkommen und Ordnung schaffen!
Die
Besten fallen!"
Das
lasen sie alle mit Begeisterung.
Vater schlägt nicht mehr zu, Ferdi auch nich. Und keine Rut der Schule, Spanisches Rohr, Rohrstock, im Schrank neben der Kreide, Herr Lehrer Finf, hol sie, hol sie, hol dich der Teufel, schreit die Rute Flaiusch, Flaisch, pfeift durch die Luft, ihr Limmel. Sagt diese Stimme über meinem dicken Kopf am Wassermund, der wächst und wächst und wächst, bis er einmal zerplatzt. Aber Propheten gibt es keine mehr, sagt Onkel Daniel an der Orgel, spielt einen hohen Ton, Bach. Hörst du es flöten? Ich werde dir Flötentöne beibringen, daß du Wasser verlangst und blaue Striemen. Und der eine Großvater schrie den andern an, und eine Mutter die Großmutter, und grün und gelb im Gesicht, und Zittern am ganzen Leib, und Vater und Mutter, und wenn alle aufeinander eindreschen, alle, dann gibt es diesen Krieg. Jetzt kriegen die Engländer ihre Dresche von uns, und dann kommen die Russen an die Reihe, jetzt, im Großen Jahr, ganz bestimmt.
Wenn ich nicht die
Wahrheit sagen will, dann gibt es Haue, aber kräftig, sie aber, sie aber haben
alle ihre Heimlihkeitn, und lügen. Ein gewisser Tiresias könnte Aufschluß
geben, sagte Onkel Daniel an der Orgel. Hörst du es flöten, die Sphären am
Altar? Als wäre es ein Hochzeitstag, Hochzeitmarsch und Hochzitsnacht. Und dann
sitzt die gute Mutter, wer ist die gute Mutter? – am Fenster, draußen schneits,
Flocken fallen, leise rieselt der Schnee,
weiße gute Finger klopfen klopfen auch ans Fenster, ans Thermometer, dann
wieder Nähn, Stricken, Kreuzstiche, da sticht sie sich dann in den kleinen
Finger, oder ists der Ringfinger? Es tropft ja, Blut, rinnt, tropft auf den
Schnee wie einst bei Schnewittchen, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut, so ein Kind, Schneeweißchen
und Rosenrot möchte ich haben, jaja, Blut ist ein ganz besonderer Saft!
Und wächst schon
der Bauch. Und sie kriegt dann ein Kind vom Heiligen Geist oder wem? Vom Blut?
Als aber der Jung zur Welt kommt, stirbt meine Mama vor Freude und ich bin eine
Waise. Und Vater heiratet eine ordinäre Person, eine Stallmagd , und so kommts
zur Stiefmutter. Und wer ist der Vater?
Bei den meisten Kindern ist das so. Und dann machen sie ein Nebenkind,
eines mit der rohen Person, ein Mädchen vielleicht, das sie gefutzt haben, im
Bett, ich habs auch gesehn, da liegen sie aufeinander, da balgen sie sich in
den Pölstern und kämpfen und weinen und schreien und zittern vor Angst, Vater
haut sie, und sie beißt. Blut und Schweiß ists. Vor allem Blut, das rinnt ihr
den ganzen nackten Leib herunter. Das hatte ich gesehn, die dachten, ich sei eingeschlafen
und war doch wach. Wieder so tun, als wären sie oben und rein, als wären sie
die reinen Unschuldsengel, immer beherrscht und nobel und ganz fein. Und nur
wir die Wastel
VIII
„Aber
wir in unserem kleinen Nest,“ sagt Mama, „jetzt sind wir ja frei, ihr Körper
ist bewegt, und singt, daß ich meine, wieder ein Kind zu sein:
„Afa
der Gaß do stieht en Bank
net
ze kurtsch uch net ze lank
awer
fier en wevelen zwinzich
dennich
net ze klinzich!
Awer
fier en wevelen zwinzich
dennich
net ze klinzich!
Daß
der Mensch kein reines Instinkwesen sei, uständig senj, uch de Pflicht, das war
das wichtigste in jenem Nest. Ech werdn schien aus dir enen uständijen Menschen machen, schrie
Vater, wenn er mich prügelte.
Nichts
wissend freilich damals, ausgesetzt, unten liegend, der Riemen sauste. Nur
strenge Blicke von überall her, wenn das „Instinktwesen“, der Wastel, die
Strömung über mich kam; dann blitzte das
Wasserblau Vaters mich an, und Otatas Grau dazu.
Die
Küche roch nach Ruß und Rauch und Holzfeuer. Heimat deiner Sterne wurde
gesungen. Gelb die Himmelschlüsselblumen am Hang. Und eine Glocke schlägt
Es
war ja viel losgewesen zwischen dem 19. Und 21. Juni 1941. Die Bannspielschar
gab ihren Bunten Abend mit Liedern und Volkstänzen und dem Komiker Pancratz.
Die Klavierschule Rechner-Plattner gab am 19. ihren erfolgreichen
Vorspielabend. Der Musikverein feierte; es gab den Tätigkeitsbericht für das
Jahr 1940; ein großes Jahr, in dem unsere „Volksgruppe“ gegründet worden war
durch den großen Andreas Schmidt, unseren Volksgruppenführer. Das
Bischof-Teutsch.Gymnasium hatte seine Abschlußfeier für 235 deutsche Schüler
und 8 sonstige. Im Corso-Kino lief der Film „Herz, modern möbliert“ mit The Lingen,
Im „Apollo“ „Was will Brigitte“. Von den Apotheken hatte die „Engel-Apotheke“
Dienst (bis 28. Juni). Eine Luftsschutzübung wurde abgehalten: Sirenengeheul –
aber kein Ernstfall.
Niemand
wußte, daß der Führer in derselben Nacht keinen Schlaf finden konnte: Es stand
auf dem Spiel: SEIN Lebenswerk; SEINES
Volkes Existenz, die Existenz ganz Europas, ja, der Welt. Den Atem würde
die Welt anhalten, wenn im Morgengrauen des 22. Juni mehr als drei Millionen
Soldaten auf SEINEN Befehl zum Angriff gegen die Russen antreten würden, die
größte Streitmacht aller Zeiten: Zwischen Finnland und dem Schwarzen Meer mit:
1200 Flugzeugen, 3500 Panzern und 7400 Geschützen. SEIN einsamster und
schwerster Entschluß.
Der
22. Juni war dann turbulent auch in unserer Stadt; Vater ging morgens ins
Geschäft, auf dem Weg hörte er, daß es Krieg mit Rußland gebe. Die öffentlichen
Gebäude in der Baiergasse waren schon mit Staats- und Hakenkreuzfahne beflaggt.
Er wunderte sich, daß einige Leute freudig erregt zu sein schienen, und daß
immer mehr Leute auf der Straße zu sehen waren; auch an vielen Privathäusern
wurden schon die Fahnen gehißt: Um halb zwölf Uhr Mittags bgannen alle Glocken
zu läuten, und ich sah, als ich aus der „Kindergruppe“
nach Hause kam, eine Kompagnie Soldaten zum Marktplatz marschieren, und ich
lief dann wie jedesmal mit den anderen Kindern hinter dem Spielmannszug her;
ich dachte, die blasen wieder den zackigen Marsch, doch diesmal wars das Deutschlandlied und die Königshymne. Und die Leute sangen mit,
einige freuten sich sehr. In der Kindergruppe hatten wir kein schöner Land in dieser Zeit“ gesungen, und der Konrad und der
Rick hatten sich wieder mal geprügelt, um zu sehn, wer der Stärkste ist; im
Sand wurde mit Panzern gespielt.
Zuhause
aber war die Atmosphäre gespannt. Vater hatte die Einberufung zu seinem rumänischen Regiment nach Râmnicul-Vâlcea
erhalten, und Mama weinte; Onkel Andreas und Onkel Hermann waren schon im Reich
in der SS; man richtete sich wieder auf, als abend der Führer im Radio sprach,
er schrie zwar ein wenig, doch die Erwachsenen waren alle tief ergriffen, saßen
vor dem kleinen erleuchteten Fensterchen zur Welt in Otatas Schlaf- und
Esszimmer vor dem Telefunkengerät: DEUTSCHES VOLK! NATIONALSOZIALISTEN! VON
SCHWEREN SORGEN BEDRÜCKT ZU MONATELANGEM SCHWEIGEN VERURTEILT, IST NUN DIESE
STUNDE GEKOMMEN...
Schon
in der vergangenen Nacht hatte meine Oma, die Mitzmother vom Führer geträumt;
und die Frau Sturmn, die in der Wohnung Parterre unter dem Gang wohnte, die
dickliche Nachbarin, die wie ein Fettklößchen aussah, hatte ihrem Herzallerliebsten,
dem Führer aus dem Reich, im Traum einen Feldhasen anbieten wollen. Das gehe
aber nicht, hatte sein Adjutant gesagt: Es müsse wenigstens ein Löwe oder ein
Adler sein! Wenn sie etwas anbieten wollen, gute Frau! Und dann hatte sie sich einfach für das Köstlichste,
etwas Siebenbürgisches entschieden: Evanghelische Hendl oder gefülltes Kraut
mit Schweine- und Rindfleisch, ganz nach Beleiben und Wahl, gustös beides. Er
hatte das Kraut gewählt, und hatte sich dann das süße Bärtchen genüßlich
geleckt.
Der
Führer redete noch immer im Radio. Und draußen marschierten die Schüler der
oberen Klassen des Gymnasiusm mit ihren Professoren vorbei, an der Spitze aber
die Blasia, die Ich hatt einen Kameraden spielte!
Und man hörte Sieg-Heil-Rufe auf den Führer, auf Marschall Antonescu und S.M.
den König Michael I.
Ich
sehe mich mit verträumtem, völlig abwesendem Gesichtsausdruck auf dem
Albersträßer Kinderrichttag im Sandersaal, scheu, timid, Einzelgängerkind, aber
dann auch „Wastel“, der seine Geschwister kommandierte, schickanierte, und
ihnen Gruselgeschichten erzählte, sich an ihrem Bibbern erfreute. So einer war
ich also. In der Schule, der Knabenschule mit dem großen Hof und der Turnhalle,
der steilen Treppe in die Klassenzimmer, beim Lehrer Sattler „Finf“, so gnannt,
weil der „jetzt alle finf“ kommandierte, und uns mit dem Rohrstock die „Kiewel“
heiß schlug, Au, Au. Bitte, bitte nicht!, glänzte ich nicht, hatte mein
schlechtestes Zeugnis der ganzen Schulkarriere, so daß meine Mutter heulte, daß
sie solch ein Idiotenkind als Ältesten zur Welt gebracht hatte! Ja, ich war
immer absent, nie dabei, wußte nie worum es ging, verträumt, weggetreten. Eben
ein Maku! Und meine Kniewel waren oft rohrstockheiß.
Und
1941 war einer der kältesten Winter des Jahrhunders, - 35°, mein Vater im Krieg
in Rußland, er kam mit seiner rumänischen Autokolonne bis nach Stalingrad.
Dann
kam jene „schwere Zeit“, wo es WHW und Eintopf, und schwarzumränderte
Traueranzegn gab, und Heldenmütter und Heldensöhne. Meine Mutter und Minch, deren Mann als rumänischer
Oberleutnant auch an der Front war, zwurnten, weinten oft, und sangen in der
Küche: Es geht alles vorüber, es geht
ales vorbei!/ Nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai!
Unvergesslich
bleibt mir, wie Vater einmal nachts plötzlich da war, auf der Durchreise, stank
nach Tabak und Schweiß, Roszi die Hände über dem Kopf zusammenschlug: „Joi as
ur! alles so übernächtig, und er gerührt „Kändchen, Kändchen“ murmelte, mir
über den Kopf strich.
Deutsche Truppen
auf dem Marktplatz: Vor der Apotheke "Zur Krone", Gewehr bei Fuß. Ich
ging mit dem Großvater da zur Ecke an der Gewerbebank, dann den Gehsteig am
Geschäft vorbei. Es ist gerade Sonntag. Am Samstag dürfen auf wir marschieren –
im Kindergarten. Morgen ist Sonntag, da fliegen die Engellein. Man bemerke die
engellein erst, sagt die Tante: wenn die fort sind, so heißts; daher hat noch
niemand eins gesehn. Am Trottoir im Hämchen marschieren wir also dann am
Samstag, stampfen kräftig auf, sehr, und auf dem Kanalabflußdeckel besonders,
das geht so bis ans Ecke zur Konditorei Martini. Da werden wir alle von Tante
Berta verabschiedet und entlassen. Grüß Gott, Tante. Grüß Gott.
Unser Dr. C. aber,
der Apotheker von der "Krone", der wurde assentiert, vom Dr.
Weindl in Hermannstadt; und dann gings
gleich nach Wien, von dort nach Berlin; machten sich noch einige gute Tage mit
dem Bäcker Pepi, Cabaret und so; und dann gings zum Anlernen ins
Zentralsanitätslager Warschau, wo das Ghetto schon ratzeputzekahl geschossen
worden war, wie er sagt: Von dort kam er nach Dachau; als Apotheker. Und dann
weiter...
Am gelben Zaun
stehe ich mit Vater, neben uns der Nachbarssohn, die siebzehnjährige
Gymnasiast, der sich freiwillig zur SS gemeldet hat. Vater sagt: Kurti, sie
sind doch noch zu jung.
Nein, ich muß.
Jeder hat die Pflicht: Befehl des Gewissens; wer sich den schicksalhaften
Ereignissen entzieht, ist ein Volksverräter.
Vater geht schnell
ins Haus. Wollte nicht madig machen, murren.
Und ich setzte mich
mit Kurti in den alten Ford seines Vaters. Der steht in der Garage. Kurti,
rothaarig, blaß, ein Primanergesicht mit Sommersprossen, randloser Brille, öffnet
den Schlitz und spielt mit seinem rotblonden Dingsda. Faß mal an. Warm und
haarig. Dabei sagt er "klutzen", unter die Bank schielen.
Spanische Quitten,
Anabis und Tulpen in Zaunnähe. Bei ihnen, bei Kurti von Kuales, im Vorzimmer
des Jägers, des Stuhlrichters, hingen Hirschgeweihe. Zimmerpflanzen standen
gleich hinter der Eingangstür. Es roch nach Ledergamaschen und Kraut, nach
Parfüm. Und die Frau Kuales im Schlafrock sagt: Willst Sissigkeiten, Kleiner?
Kurti zog nach
Wien, wurde dort von unserem Obergruppenführer Berger mit Handschlag begrüßt.
Die harte Ausbildung; Grundlage für den Fronteinsatz. er kam nie wieder, fiel
bei Smolensk. Wenige aus seiner Klasse kehrten zurück. Er war acht Jahre älter
als ich.
...
die neue Heldenzeit… Zeit, heldehaft und hehr.. Deutscher Wald schwarz, nurs
Weizenfeld golden, die Kornblumen blau, wie die Augen der Frauen beim Lieben. Kornblumenblauuuu…Mädel mein, sag nicht
nein. Heute wollen wir marschiern, einen neuen Marsch probiern. Echter
Mann, der die Kornblumenblauen verdient Vor
der Kaserne vor dem großenTor. So wie Tallo jetzt, Scharführer in der
Baracke, 1942 in Neuengamme, sich trösten und vom Heimweh kurieren muß... Städtle hinaus, Städle hinaus, und du mein
Schatz bleibst hier. Konnte es kaum aushalten, wenn der Spieß ihn
schrecklich buserierte, ihn Strafexerzieren ließ. Wenn i komm, wenn i komm, wenn i
wiederum kommm… Es ist so schön Soldat zu sein… Roosemarie! Hatte eben oben
im Reich geheiratet, zum Trost. Ein Mädchen ganz in der Nähe von Neuengamme, Zufallsbekanntschaft,
die Liesl aus Bergedorf. Ich tanze mit
dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe. Es wird noch
einmal ein Wunder geschehn! Jaja.
Aber der Spieß buserierte weiter. Und schrecklich diese abgemagerten
Gestalten im Lager. Viele Tote. Immer wieder Gehängte. Die Schwarze Wand auch. Das kann doch einen Seemann nicht
erschüttern, keine Angst, keine
Angst, Rosmarie... hier oben nah vom Sgaerack und dem Kanal. Keine Angst,
keine Angst, Rosmarie!
Und
schrieb nachhaus, schrieb ungern, doch linderte es das Himwih. Sie saßen als
die Post kam im großen Herrenzimmer im Kreis und Mama las den Brief vor, Mama
entzifferte mit Mühe die großen ungelenken Schriftzzüge, und alle waren
aufgergt hatten gerötete Wangen, schließlich kam der Brief von oben ausm Reich.
Heilig Vaterland…: „AO, 2 . August.
Ihr Lieben! Habe den Familienbrief über Hansonkels 50. Geburtstag erhalten und
die 5 ´Großkokler Boten`. Ich jabe mich sehr gefreut darüber und im stillen
Gedenken an den Baumgarten, die Familie u. die beiden Feste, die aufgefahrenen ´Genüsse´ vermißt. – Meine
Arbeit hier ist sehr interessant und macht mir viel Spaß, nur leider muß man
auch viel Wache schieben u. zwar in ähnlicher Art wie unser Andreas, und das
gehört so ziemlich zu den ermüdendsten Angelegenheiten und so gilt ein
entsprechend erhöhtes Schlafbedürfnis, nur so, daß ihr nicht zu sehr über meine
´Schreibfaulheit´ klagen sollt! – Andreas schrieb mir vor kurzem um Auskunft.
Er will sich Studienurlaub geben lassen u. da mußte ich mich hier erkundigen,
weil sie dort, wo er ist, nichts davon wissen wollen. Ich habe mir dann hier
von einem Führungsoffizier des Batt. die genaue Bestimmungen geben lassen, auf
die er sich berufen kann und auf Grund derer es ihm als Kriegsversehrtem
unbedingt zusteht. Hoffentlich klappt es, daß er endlich von Auschwitz loskommt…
Soldaten sind Soldaten in Worten und in
Taten, und kenen keine Lumperei, Valleri, vallera jucheissas, Roosemarie!
Ja,
sagte Großvater, von Auschwitz schon gehört, da waren wir auch, Großherzogtum
Krakau und Herzogtümer Auschwitz und Zator. Ach, Galizien. Weviele
Fleischwunden, brandige Stellen nach der Schlacht, das Schreien der Pfede und
der Verwundeten. Das wußte aber Tallo, der Karl Wilhelm hieß, nicht mehr, er
war ja ein Kriegskind, der Arme, war anfällig und nervattich, er schrieb am
nächsten Tag aus Neuengamme: „AO. 5. August. – endlich komme ich wieder dazu,
den Brief zu Ende zu bringen. Gleichzeitig schicke ich die Gropßkokler an Hermman weiter. Inzwischen hat sich leider
herausgestellt, daß alle Hoffnungen bezüglich des Wetters vergeblich waren,
denn es ist auch am nächsten Tag das alte Sauwetter ausgebrochen u. heute sogar
empfindlich kühl. Der Sommer kann übrhaupt keine Stunde sein. Wegen des Wetters
hatte ich Schnupfen, doch das neue Mittel hat gnützt, meine Nase funktioniert
wieder anstandslos u. vor alem der riesige Schnupfen ist nun endlich weg. Wenn
ich auch noch nicht so tadelos durch die Nase schnüffeln kann, wie ich es mir
wünsche. Ist der Gerhard F. tatsächlich schon
Obersturmführer geworden. Der hat Glück gehabt. Übrigens der Tommy war
einigemale hier. Es ist aber bei weitem nicht so schlimm, wie ihr es euch
vorstellt.- Mama soll sich jedenfalls, was meine wertvolle Wenigkeit betrifft,
keine unnützen Sorgen machen, hier sind wir ungefährdet und haben auch gute Luftschutzkeller.
Richtet bitte all den unterschriebenen Onkeln, Tanten, Vettern, Cousinen,
Nichten und Neffen usw. Meine herzlichen Grüße aus. Es grüßt euch alle vielmals
euer Tallo.“
Kommt ein Vogel
geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß. Hat ein Brieflein im Schnabel, von
der Mutter einen Gruß.
Und muß doch lügen, ist Pflicht. Muß alles stramm
zugehn, und Oberscharführer Heintze hats übertrieben, da hat er seine Wut
ausgetobt, da er doch in Braunau am Inn geboren, und der Oberleutnant Müller
ihm befohlen, zu Führersgeburtstag eine Rede zu halten, und ist
blamiert, niedergeschlagen, suchte zuerst im Hemd Läuse. Dann aber Stahlhelm auf. Und einen Häftling genommen, einen aus diesem
gräßlichen Elbkommando, mußten den Kanal ausstechen, schwankten wie Schatten
unter Schubkarren, schwitzten kaum noch, halbverhungert, schwer mit Schlamm
geladene Schubkarren, zuhaus gabs sowas nicht, auch wenn Tata hart umging mit
uns, die Knochen wehtaten, immer dies Schuften, aber hier brachen sie zusammen,
starben, und Heintze nahm einen: Los, du Schwein! Nahm ihm die Kappe vom kahlgeschorenen
Schädel, warf sie jenseits der Postenkette.
Los, hol die Mütze, du Schwein.
Und der mußte laufen, wurde von den Posten natürlich auf der Flucht erschossen. Das war äh, nur ein Spiel hier, aber
gräßlich. Ich schau nicht hin. Doch das Knalln und den Schrei hörst du doch. Menj Läwen.
Und der Schädel ... da tauchen einige Tote auf Urlaub auf, halbseitig
nur geschoren, das aber heißt, sie kommen in den Bunker, werden erschossen ...
der Arestbunker, da schleich ich mich vorbei.
Da mußten wir die Russen reintreiben, es waren vierhundert. Und man munkelte "Testpersonen", so
sagte der Müller, Test, ein neues Mittel, Blausäure, heißt Zyclon oder so. Das war im November 42, ganz am Anfang, ich
war erst einen Monat hier. Soll ich das
vielleicht Mama schreiben? Muß sie doch
schonen. Ist ja auch streng, unter Strafe verboten. Geheim.
Soll ich das der Familie nach Haus schreiben, mit dem Gündisch...
Der arme Tallo. Seine interessanteste Tätigkeit blieb das
Stollenbauen mit den Häftlingen, da war er nach Buchenwald bei Weimar versetzt
worden... 1945 im März. ER war ja Tiefbauingenieur: Stollen bauen und darin die Bunker sollten die Geheimdokumente
des Reiches aufbewahert werden... für aale Zeiten, ein ganzer Papierberg im
Kyffhäuser, und das Papier erblühe nun, Testament für die nächsten 1000
Jahre. Kein schöner Land.
Im April 45 wurde Tallo
bei Hottelstedt von jüdischen Häftlingen erschlagen. Er und seine ganze Geschichte liegen dort
unter einem einfachen Holzkreuz begraben.
Helm auf dem Kreuz. Und der Kopf
unten, die Erde.
Andreas aber kam aus
Auschwitz nicht frei, doch blieb er am Leben, und seine Geschichte geht weiter,
während die Erde dauerhaft ist, keiner weiß mehr, ist die Geschichte zwar auch
dauerhafter als man annimmt, beständig, doch weiß sie allein, was sie nicht
will, nämlich uns.
Achtet im Irren
euch nicht zu verwirren,
denn Morgen oder schon
heute Abend kehrt ihr
zurück
ins Licht zum Jüngsten
Gericht.
Hatte noch aus Neuengamme
bei Hamburg, der arme Donner, der Tallo,
geschrieben, Neuengamme: wo er auch seine Frau kennengelernt hatte, Neuengamme,
nie alteriert, eine Aliteration - linkerwerk, KZ, Konzern, Kriegswirtschaft,
Krematorium, Knast,
nur die psychiatrische Klinik fehlt zur
Vollständigkeit. Heute ist da ein
Schilderwald, als ich mit Jann auf
dem Weg nach Sylt, Karl Wilhelms, also
Tallos, Frau (sie ist reiche Reedersfrau geworden) in Bergedorf besuchte, sah
ich die roten Klinkerbauten, Teerweg, der Schilderwald, darunter FA. Hermann Sparr & Co. Verfallene
Lagerbauten, Stichkanal auch zur Elbe, wo Häftlinge durch Arbeit getötet
wurden, das alles ist hjetzt mit Segelyachten besetzt, die da herumdümpeln,
Hamburger Gutbetuchte spannen hier aus, ob sie das KL interessiert? Ach, was, ein alter Hut, sagte einer, als ich
den Folgen dieses Satzes. Deutsch
nachging. Fachkundig erzählt einer von
seiner Törn nach Dänemark, ob er den Fliegenden Holländern und Geistern begegnet
sei? Die hielten das für einen Witz, lachten
dünn. Deutsch. Im Satz aber schreit ein Häftling auf dem
Prügelbock, nacktes bluttriefendes Gesäß, zerfetzt, ein anderer stirbt beim
Pfahlhängen nahe der Elbe mit ausgerenkten Armen, Heilig Vaterland in Gefahren,
verurteilt, weil er sich bei der Arbeit hingesetzt hatte, ein Holländer, der
:fatale Schwindelanfall hatte ihn gepackt: schwarz vor den Augen, Schwärze dann
für immer. Deine Söhne sich um dich
scharen. Der Kopf sank ihm auf die
Brust, immer der Kopf. Neuengamme ein
riesiger Konzern von nationaler Bedeutung, schrie ihn Müller an, und du Schwein
muckst auf, drückst dich, das ist Sabotage!
Bevor ihm die Arme ausgerenkt wurden, gellte noch diese Menschenstimme
ihm in den Ohren, Kehlkopf, Stimmbänder, meine Stimmbänder, meine Arme, deine
Arme, Kugelgelenk, Schultergelenk, Knacken, weh taten sie schon beim
Strafkniebeugen, ausgestreckt, bleischwer, ging es damals vielleicht Tallo
durch den Kopf: die Bergschule, und Arbeitsdienst hart wie Kruppstahl bei Kaisd,
Fliegender Holländer stirbt, keine Kindermär. 12 Stunden schuften die hier,
beim Postenstehn fallen mir die Augen zu.
Schwärze. Reibt sich das
Schultergelenk. über 70 Nebenlager. Sehr
kriegswichtig.Und ausgeliehen das Menschenmaterial, Tagesmiete 4 Reichsmark bei
Blohm & Voss. Deutsche
Wertarbeit. Blessing. Continental.
Deutsche Werft. Hanomag. Volkswagen.
Und daß, wenn man "Heil Hitler" sagt, geht ihm durch den Kopf,
noch ists keine Kugel: man es gar nicht selber sagt, sondern ganz wer anderer,
und man so dasitzt und Läuse sucht, man sie in einem Hemd sucht, das gar nicht
mein Hemd ist, und doch näher als der Rock, und daß gleichzeitig irgendwo ein
Mensch mit Stahlhelm und grauem Rock herumläuft, der wo eigentlich man selbst
ist, und Verantwortung tragen muß für ...
Ein
Gefühl des Grauens, fieberhaft arbeitet es in dir, du lebst noch, träumst, faßt
deine Hand an, sie krümmt sich ins Fleisch, beißt knirschend die Zähne
zusammen, das kann doch nicht sein, du bist es nicht, du träumst, du wirst
gleich erwachen, wie du auch aus den schrecklichsten Träumen erwachst, als sie
dich in einen Schacht, brunnentief, ohne Ausgang und Nahrung und Wasser, ohne
Leiter und Stricke, ohne Licht und Stimme, keine Nähe wie zuhause, alles hier
fern vor Enge, kein Laut, denn es liegt innen, wenn du rufst, verbrauchst du
die letzte Luft …
Ich meinte, aus
diesem Gefängnis, genau wie aus meinem mich eng umschließenden Körper, nicht
mehr herauszukönnen... als ich erwachte, wurde mir klar, wo ich war; ich rannte
hinaus in den Garten des Holzmarkthauses, um diesem Fleischsack zu entgehn, sah
aber um mich wieder nur noch eingesperrte: Bäume, Blumen. Wenn es jetzt in
diesem Erinnerungshaus noch so weitergeht, drehe ich durch. Und stellte mir
vor, wie wir immer kleiner und kleiner werden, enger und enger der Schacht uns
umgibt – winzig, bis wir darin zerdrückt werden. Seit der Kindheit hatte ich
sie gehaßt, diese Körper-Illusion. Etwa bei Tisch; rote Zwiebel, Käspalukes,
Familienfeste, Geburtstage. Fressen, immer wieder Fressen, alles eine sich
wiederholende Anekdote, im Detail sich selbst erzählend: Zeit vertreiben, die
uns so durchgeht. Die Magd reinigt das Schlaf- und Eßzimmer, alle Böden
glänzend, Parkett, voller Geduld, die Fußtritte löscht, mit denen wir auf einem
nicht vorhandenen Boden stehn: Damit er mit ihrer Sklavenhilfe uns von Gott
erhalten bleibe, immerzu für unsere tierische Bequemlichkeit. Ihr hatten keinen
andern Gott mehr! Seht nur die Oberfläche. Glaubtet an nichts anderes mehr als
an euren sächsischen Kleinsinn – hätte ich Mama am liebsten in die Küche
nachgerufen, als sie im Sommer in Aliano gewesen war. Da hatten sie immer über
das Mittagessen geredet, die beiden Frauen! Weißt du, was mich am meisten
geschockt hat, sieh hier, sieh eine Vermischung , wie sie diesen
Tagebuchaufzeichnungen, die ich in unseren Familienbriefen fand, zu entnehmen
ist. Krass ists zusammengebracht, was heute räumlich getrennt ist.
Komisch,
heute Nacht hatte ich von Italien geträumt:
Ich war an Kanälen
entlanggegangen ans Meer, verbissen, stumm. Der Serchio neben mir. Und ich
erinnerte mich plötzlich an den gleichen Spaziergang hier mit Jann: doch schon
damals kam das Echo nicht, als Jann fragte, erinnerst du dich noch, vor einigen
Jahren waren wir auch hier an der Pineta, am Serchio entlanggegangen, lauter
Fischer saßen da am Ufer. Kein Echo mehr, nein. Als wäre die Seele ausgelöscht.
In der Nacht dieser Traum: Ich bin allein in
einem Labyrinth von Kanälen und Kanälchen wie in Venedig, gehe einen Kanal
entlang, komme in ein Gewirr kleiner Gassen, springe mit einem kleinen Jungen
über einen seichten Kanal, man sieht den schlammigen Grund, ich sehe auch das
Pflaster genau, es sind Katzenköpfe von zu Hause aus S. Drüben wie die
rötlichrosa Brücke und Sandstein in mir. Ich bin jenseits, aber noch kein Toter.
Mit dem Jungen gehe ich in eine dunkle Treppenhöhle, da steht die verstaubte
Kiste meines Großvaters mit dem Pferdegeschirr, dem Zaumzeug, dem Ledersitz,
mit dem fuhr er über Land. Der Landarzt. Es riecht nach Formol und scharf nach
Karbolineum. Am Geruch entlang wirds immer enger, ich muß schließlich aufwärts
kriechen, oben ist Licht zu sehn, und plötzlich eine Stimme; du hättest mir
aber auch einen bequemeren Weg bieten können. Ich sehe das strahlende, lachende
Gesicht von früher, es ist Maria von Licht umrahmt, sie fasst mich an der Hand
und zieht mich schnell aufwärts, da war ich plötzlich draußen. Ich hatte Angst
im Foltergang von S. zu sein, und der kleine Junge, ich selbst also, war
verschwunden. Doch Ruth beruhigte mich lachend, so etwas gäbe es gerade dort
nicht. Und erwachte HIER. Wußte sofort, daß ich damit endgültig etwas verloren
hatte.
Eine Stimme auch jetzt, wie bei allen entscheidenden Augenblicken; sie
schildert das offene Fenster, und nur in der Kindheit, sagt sie: und im
Traumzustand sind wir uns jener Freiheit bewußt, zum eigenen Wesen und zum innern Bewußtsein gehört, das sich
auf die Existenzweise zubewegt, in der ich mich jetzt befinde. So ließe sich
auch jene jahrelange Sehnsucht "heimzukehren" erklären.
Am
Morgen das Rauschen der Dusche; als wäre es das erste, das allererste
Wasser von zu Hause als Kind, Wasser hat ein eigenes Gesicht, das
sich auf der Haut formt, im Ohr, das sich verformt in mir, als würde es in den
Bildern wandern, vor allem in den Augen. Und Haut, pergamentartig, mumifiziert. Todesbewußtsein, wie
Menschen im letzten Krebsstadium, bewußteres
Leben, dachte ich... neben dem weißen Haus die dünne Hecke. Grün. Die Schrift:
darauf Bad in Lettern, ganz gewöhnlich,
man kann es lesen, es beruhigt. Lesen,
wie sonst: Bad. Baden ist schön. Wie in Turnhallen. Auch die Kleiderhaken,
lange Bänke, wie in Turnhallen zu Hause. Körperübungen, Körperkultur. Körper.
Andreas sah die Nackten, weiß schimmerte
das Fleisch, glänzte matt, die Härchen, der Flaum an der eigenen Hand, der
Schreibhand, das hatte er immer angesehen, bei einer Denkpause, Schreibpause,
zwischendurch, wenn er aufwachte aus dem Wegsein in Gedanken, schreibend. Und
Pfeifen, und Befehle, Kommandos. Mit einem Lied auf den Lippen, man marschiert
eine Runde. Er war vom Turnen befreit gewesen, immer ein wenig schwächlich. Er
hatte immer nur gelesen. Bücher beruhigten, hoben alles, hoben auf. Er wußte
jetzt genau, wo er war. Ob er daran glauben sollte, daß er einmal berichten
müßte, Zeile für Zeile, alles, was am Ende geschehen, wenn es einmal gewesen
sein wird, in der nächsten Minute gewesen, nachher: er ein Zeuge, daß es nicht
vergessen werden wird, was geschehen und
gewesen war. Auch wenn er es gewollt haben würde, Sehend, Schreiben zu einer Beschäftigung gemacht zu haben, während
es geschah, von dem alle wußten, daß es
einmal kommen mußte, nicht so für alle, schon öffnete sich die Tür, er ging, es
erleben zu müssen, was hier, wenn der Satz weiter geht, unmöglich ist.
Andreas
hatte es erzählt:
Da
war doch damals eine gewöhnliche Scheune, zuerst, das ging primitiv zu,
anfangs, weiß gestrichen wie ein Lazarett, darin zuerst, wenige Menschen,
hineingeführt wie Kinder. Später vier große Blöcke. Menschen fließen dahin wie
Wasser, unter blutarmen Bäumchen, angesichts eines verqualmten Waldes, schwere
Lastwagen bringen die Menschen, niemand lehnt sich auf, alle ziehen sich brav
aus, legen ordentlich ihre Kleider auf einen Haufen, merken sich die Nummer,
gehn zur Tür. Kinder spielen, ein Mädchen
nimmt die Stoffpuppe mit. Hier, dieses ist ein Nachbild, ja, eine Seite Papier,
nicht angesengt, keine Asche wie bei Zigarettenpapier, der Wulst Asche, Lippe
grau, dünnstes Papier, manche schrieben darauf ihre Botschaften, anstatt weißen
Rauch...
Es
gab auch einen Block, mit einem Puff. Und einen, wo früher getötet wurde, jetzt
ein Gong, während die Nackten im "Waschraum" sind, fertig für den
Himmel. Sogar ein Dichter ist mit dabei, Fondane ist mit dabei, er wundert sich, daß er nicht
friert, keine Scham empfindet, bei sovielen Frauen, die ihn sehn. Im Waschraum
boxen sie. Richtige Boxkämpfe. Und Konzerte, nebenan. Und wenn sie einen normal
töten, ihn aufhängen, das ist ein Luxus, da spielt die kleine Kapelle auf.
Neben
dem weißen Haus die dünne Hecke. Grün. Die Schrift: darauf "Bad" in
Lettern, ganz gewöhnlich, man kann es lesen, es beruhigt. LESEN, wie sonst:
Bad. Baden ist schön. Wie in Turnhallen. Auch die Kleiderhaken, lange Bänke,
wie in Turnhallen zu Hause. Körperübungen, Körperkultur. Körper. Er sah die
Nackten, weiß schimmerte das Fleisch, glänzte matt, die Härchen, der Flaum an
der eigenen Hand, der Schreibhand, das hatte er immer angesehen, bei einer
Denkpause, Schreibpause, zwischendurch, wenn er aufwachte aus dem Wegsein in
Gedanken, schreibend. Und Pfeifen, und Befehle, Kommandos. Mit einem Lied auf
den Lippen, man marschiert eine Runde. Er war vom Turnen befreit gewesen, immer
ein wenig schwächlich. Er hatte immer nur gelesen. Bücher beruhigten, hoben
alles, hoben auf. Er wußte jetzt genau, wo er war. Ob er daran glauben sollte,
daß er einmal berichten müßte, Zeile für Zeile, alles, was am Ende geschehen
wird, wenn es einmal gewesen sein wird, in der nächsten Minute gewesen,
nachher: er ein Zeuge, daß es nicht vergessen
werden wird, was geschehen und gewesen war ...Auch wenn er es gewollt
haben würde, SEHEND SCHREIBEN ZU EINER BESCHÄFTIGUNG gemacht zu haben, während
es geschah, von dem alle wußten, daß es
einmal kommen mußte, nicht so für alle, schon öffnete sich die Türe, er ging,
es erleben zu müssen, was hier, wenn der Satz weiter geht, unmöglich ist...
Nur
einer vom Kommando hat es im Kopf, ein Prager, als wäre es ihm bekannt, er sah
es täglich, blieb aber freilich , mußte vor der Tür bleiben, eine Eisentür,
innen voller Kratzer und Blutspuren, ohne Klinke. Und jetzt sind sie alle im
Bad, die Türen werden verschlossen, dachte er nur im Bild, ganz ohne jeden
Satz. Sie fürchteten hier etwas auszusprechen, was wirklich war, nur Trösten
und Tätscheln und die Notlügen gingen in die Sätze ein, hinein ins Weinen und
Wimmern, ein Schrei, wenn das Bewußtsein von einem plötzlich alles davon
durchbrach, schrecklich hell wurde, dann sagten sie, man solle sich die
Kleidernummern merken, um die Kleider wieder zu finden.
Das
kleine Mädchen durfte ein Märchenbuch und seine Puppe mitnehmen ins Bad, eine
Geschichte von Brüderchen und Schwesterchen, seine Oma von Tränen erstickt,
tapfer im Lesen, die Stimme überwunden, erstickt lesend.
Auch
Andreas versteckte sich oben auf dem
Wachturm in einem Buch vor dem Tod, um das alles so wie es wirklich geschah,
nicht sehen zu müssen! Steckte die Nase, sein Gesicht und alle Alpträume in
ein Buch, und sagte auch, sagte es voller Stolz, daß er doch andauernd auf dem Turm Wachvergehen begangen habe.
Weinen, Schreien, aber auch lautlose Stille, hie und da aber Gewehrknattern,
wenn einer gegen die Grenze, die mit Starkstrom geladene Stacheldrahtgrenze
anrannte, um vorzeitig aus dem Leib zu
fliehen, Zwang, zu tun, was später geschehen würde, weil es jetzt keine andere
Rettung mehr gab, als die wirkliche Rettung, vor der nur ein alter Nebel des
Kopfes stand.
Die andern aber mit dem Totenkopf:
Ordnungsbesessenheit und zusammengekniffene Lippen. Ihre Taten wären anders
nicht möglich gewesen. O Donna Clara, ich
hab dich tanzen gesehn... kam dieser schwarze Feldpostbrief. Das Lied aber,
ist das Gegenteil, auch Mutter sang: Es
geht alles vorüber, es geht alles vorbei, und sofort dann weiter: Nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai. Biserbricht! Und der RÄCHER ist aktiv. Die
Furie des Verschwindens. Uns gibt es seither nicht mehr!!
Zu
sehen sind nun wie ein Gebirge große Brückentrümmer, ein Trümmerhaufen nur aus Lettern und lauter abgeschnittne Zungen, doch alle wollten Ruhm und Ehre, hör
ich nun Andreas leise sagen: verschrieben sich dem Wahnsinn, um zu siegen
wohl wissend freilich: wer ohne Ruhm verzehrt sein Leben, der läßt auf Erden
keine anderen Spuren als Rauch in Lüften oder Schaum auf Meereswogen... Und was ist das für ein verfluchter Kerl, da
redet wie ein schnarrendes Bandgerät, hat lauter Zahlen, Preistäfelchen auf dem
Rücken und ist von wirbelden Geldscheinen umgeben ... Wort für Wort radikal ausreisen müssen, zurück genommen,
wie eine Scham. Doch im Schreckenstraum
der Nacht: da setzte ein Sog ein, ein innerer Wirbel, Michael wurde
fortgerissen: Durchblitzen vieler heller Szenen, als würden mehrere
Filmsequenzen übereinander kopiert: Und
sofort kam schon der nächste Sog:
"Eine Brücke vor mir und sie
forderten mich auf, über sie hinweg zu
gehen zum andern Ufer, zum andern Ufer,
die Brücke wieder wie ein Rasiermesser scharf, kaum über den Bach, der
tönte, sofort verstummen mußte, so fein das Vibrieren, die Brücke aber ein
Haar. Und ich faßte mir ein Herz, ging
auf die Brücke zu, daß der Sog mich
faßte, und ein Schwindel drehte mich, ungewohnt die Nerven, das Auge und
Blumengebüsche, dazwischen starker Duft,
ein anderes Blenden, wie ein plötzlicher Reflex der Sonne auf einem
Fenster oder Spiegel, weißgekleidete Leute,
einige nackt und haarlos, und diese schienen zu schlafen, und sich um
die eigene Achse zu drehen, es waren unendlich viele, alle sphärisch in Kreisen
angeordnet, im Riesentunnel die nackten
Leute, und ich sah auch an mir herab,
sah, daß ich ebenso aussah, die Haut glatt, der Körper seltsam jung, und kaum
der Körper des kranken Terplan, und gegenüber diesen Myriaden von Toten (in Tausenden von Jahren gestorben) gab es einige Weißgekleidete, die weder
gehn, noch stehn konnten, sondern
schwebend vor Leichtigkeit, körperlos wie ein
sichtbarer Gedanke geworden
waren, ein Hauch jeder, und jeder seine
lichtdurchglänzte Wohnung, eher goldene Ziegel, am Ufer aber einige vom Gift berührt
...
Und
alle Toten nehmen immer zahlreicher
Kontakt mit uns auf. Auch die Kriegstoten. Ich höre doch immer noch
Georgs schöne Tenorstimme, und er sagte wieder: Hierst tea mech, Mächel. Und
dann auf Deutsch: Behüt dich Gott, es wär
so schön gewesen. Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein. Und Kurt,
unser siebzehnjähriger Nachbarssohn, sagte fast heiter: Hallo, hier Totenfunk. Bedenke, ich bin. Und Dein Vater hat damals
recht gehabt. Wir hätten uns nicht melden dürfen! Meine Mutter ist vor Kummer
gestorben. Du weißt es.
Ja, ich weiß es.
Und ich sehe plötzlich seine Mutter, die
Frau Kuales, vor mir: Eine Frau mit aufgelösten Haaren und bitterem Mund, sie
singt ein Lied aus einer Dachluke des gelben Nachbarhauses, ihr Wolfshund schlägt noch an, Vögel in den
Kerzen der Kastanien, weiß, und ich wäre ein Kind, sagt sie, aus den Tränen heraus.
Sonne von oben, also Mittag:
Heute
nur heute Nur diese Stunde
bin
ich so schön; bist du noch mein:
Morgen,
ach Morgen sterben, ach sterben
muß
alles vergehen! soll ich
allein.
Zähl
die Jahre. Jetzt sind sie da. Die Kuckucksuhr mit dem Holzkuckuck, der schlug Viertelstundenweise
den Tod an: Verneigte sich davor, bunt. Und im Sommerhaus der Echte aus dem
Wald. Eichen. Man zählte. Und verstummte. Du lieber Himmel, alle noch so jung.
Wie lange noch? Jetzt hat uns die Zeit der Väter, der Großväter wieder
erreicht. Jetzt gehe ich über einen
Friedhof; Tausende von Namen, Daten."
Und dann gleich die Stimme: Wie kann man
mit diesen Erinnerungen weiterleben? Dazu ganz unerwartet die Stimme von
Andreas: "Man kann im Grunde nicht weiterleben, nur an der Oberfläche kann
man es, sonst aber fallen wir täglich in unennbare Tiefen. Und das, was als
Bild vor mir stehet, geschieht jetzt immer wieder, immer wieder, immer wieder,
muß ich es tun! Und ich kann es hier Nie mit gutem Gewissen, wie früher, das
schneidet, das brennt, wenn ich, der Frühere es tut.. Mit gutem Gewissen? Der Zwiespalt ist ein Messer. Ist dieses die
Hölle. Am schlimmsten aber, daß ich zusammengesperrt bin im gemeinsamen
Innenraum mit meinem Kommandanten Höss.
Und ich kann es nicht überwinden,
aus meiner Seele rausschaufeln: ORDNUNG, dieses Geheimnis nach dem wir suchen. Wie Ornung entsteht - das größte Geheimnis.
Aus dem weißen Rauschen, dem Möglichen, der Überraschung. Doch wehe, wenn
Ordnung ein Fertigteil, das Gewesene ist, ein Tick. Und kürzen so das Leben um eine Ewigkeit. Wie ES
dies schon im Sprachdurchlauf schafft, in furchtbaren Wortalchemien, die ja die
Macht sind: KL, HSSZPF, RF, SS. Anerkannt sogar vom Papst. Zur Beseitigung des
WELTORDNUNGSWIDRIGEN ZUSTANDES, Chaos, die
Aushöhlung und Infektion der Seelen (und Geschäfte), Kampf für den
ordnungsmäßen LAUF DER WELT. Mit dem
Kommandanten gefeiert, auch Weihnachten. Stille Nacht gespielt. Heilige Nacht,
alles schläft einsam wacht. O du Fröhliche, O du Selige, gnadenbringende
Weihnachtszeit. Mit dem Kommandanten. Klavier gespielt, um zu vergessen.
Lichterbaum, Wunderkerzen, um zu vergessen. Tannenduft. Alles schläft,
eiin...saam wacht. Und einer tröstete sich damit, daß er noch denken konnte:
Und das FEST als Versuch dagegen. Wie die Musik. Was ist das Ewige: Gegen das
Verkommene, Verlotterte, Schmutzige, Unsaubere, Kampf um alles zu vernichten,
was verfällt, wir wollten das Lichte, Blonde, wider die feuchte Stelle.
IX
Am nächsten Morgen ein neuer
Erkundungsgang. Ich gehe eben durch das Tor des Stundenturmes mit dem
Fallgitter auf die Burg, es riecht dimpig, staubig, und der Rost des grausigen
eisenvergitterten Fensters, ausgerechnet des Folterstübchen, welch eine
Schmerzidylle, und geht mir in die Augen... höre die Uhr nun schlagen,
und es wird vielleicht das letztemal
sein.
O Hämmerchen,
Hämmerchen klopfe,
die Uhr schlägt
schon bald zwölf,
die Augen, sie
fallen am Ende,
gäw Kraft o Gott
hälf.
Und
gleich über mir in der Nische des Stundturmes, der Uhr, natürlich als Bild und
Frau, dem Himmel näher, dominierend: zwei Frauengestalten, in langen
himmelblauen Gewändern mit grünen Leibchen, seitlich an den Schultern sich eng
umschlungen haltend, die Göttin der Gerechtigkeit, mit der Waag in der Linken,
und die Göttin der Gerichtsbarkeit, verbundenen Augs und hochhaltend in den
Himmel hinauf das Schwert: und sie wenden alle Minuten ihre Köpfe einander zu,
um, wie es hier unter den Leuten heißt, "ein Urteil zu sprechen", als
wäre es jede Sekunde, die uns tötet. Aber diese ingeniöse opera, dieses Zeitwerck gehet noch weiter in
der Rafinesse: Zu beiden Seiten der Frauenfiguren schweben aus kleinen
Fensterlein in der Rückenwand abwechselnd alle 12 Stunden, zwei Figürchen
heraus, das eine mit einem Lichlein auf dem Kopf und einem flammenden Herzen in
den Händen, das andere mit einem Stab, oder ist´s eine Fackel in jeder Hand,
als wäre es der Todesgott selbst, nein, es ist nur die Nacht, und die andere
Figur mit dem Licht und dem Herzen ist der lichte Tag, wie er aufgeht von Osten
her, aus dem Széklerland und den Bergen der Ostkarpaten, wo es verrückterweis
von Vampyren am Borgopaß nur so wimmeln soll, die doch der Nacht angehören.
Aber diese beiden Schwebenden sind noch schöner als Tag und Nacht unseres
Buonarroti in der San Lorenzos Capelle,
so schön wie Michelangelos Vers: El di e
la nocte parlano e dichono... Daß Tag und Nacht dem Toten das Leben genommen,
er sich aber rächte, so "daß er uns, die wir ihn getötet haben, als ein
Toter das Licht genommen und mit seinen geschlossenen Augen die unseren
verschlossen hat." So stand es auf dem Skizzenblatt der drei Entwürfe zu
Pilasterbasen der Medici-Kapelle... Hier oben aber auf dem Stundturm ist dann
noch der Tambour, der alle weckt, auch die Toten aufweckt, sagen sie hier. So
lieben sie ihre Stadt. Hammerschläge alle Viertelstunden auf die Pauke, und
alle Stunden Paukenschläge auf die Glocke unter der großen Laterne, dort oben
für alle sichtbar, soviele Schläge, wie das Ziffernblatt zeigt.
Aber
da gibt es noch die uralte und immer neue Demut des Todes, die alles löscht und
weich verschwimmend, Altes zu einer Grenze bringt. Und haben es in ihrem fränkischen Dialekt hier so im Volksmund
aufbewahrt: Wonni wärd´n ech weder kun?/ Wonn de schwarz Rowen weiß Fädderchen
hun. Das heißt: Wann werd´ ich wiederkommen, wenn die schwarzen Raben weiße
Federchen haben: So ist dann auch neben dem Tambour ein armer Mann mit
nackendem Oberkörper und zerlumptem Lendenschurz zu sehen, doch die Beigaben
aus den hochgehaltenen Händen hat er verloren, so weiß keiner, ist er ein
Bettler oder ist er ein Henker. Und ist die wichtigste Figur. So ist viel von Abschied hier in Scheszbrich zu
bemerken, wie es auch heißt, als bräche etwas entzwei, und ein Weinen ziehe
über den schwarzen Himmel, vom Trennen und Weggehn wird viel geredet, auch
schon vor und dann noch lange nach dem Schwarzen Tod.
Am
schönsten und ergreifendsten aber sind ihre Waisenlieder hier bei dem vielen Tod
und dem harten Krieg täglich zu sagen:
Menj
Schächeltcher senj zerrässen,
menj
Hemdchen äs zerschlässen,
menj
Hor verknuddert gor,
menj
Uchen wi vun der Zor.
Flech,
hieschet Vijeltchen, flech,
än´t
gäldän Hemmelrech,
branj
menjer Mother en gaden Dach
en
so mer derno, wat macht se noch.
Und
als habe die Pesttote, die Mutter geantwortet:
Ir
Anjeltcher branjd här den Wänjd vur menj Dir!
Schieden
wäll ech aus der Wält
fohren
wäll ech ze den Fraoen."
Die Toten also sind
die Freien!
Den Umweg
aber den gibt es hier wirklich, er führt zum Friedhof, zur Bergkirche und
zur Gruft; er führt am Hause des alten Zeichenlehrers Donath vorbei, der den
Friedhof malte, wie mein Vater, der sein Schüler war, der Umweg, da saßen sie
und zeichneten, ein Weg führt daran vorbei, ein verrostetes Eisengitter, ein Tor, ich gehe da durch,
lauter Namen, viele Gräber, ich lese, so denkt noch jemand an diese Menschen,
viele Gräber sind vermauert, Erde mit Beton zugedeckt, kaum Blumen, die Verwandten
wandern aus, der Friedhofsbesorger hat viel zu tun, wo Deutsch zur Sprache der
Grabsteine wird, hat jemand die Namen gefunden, einmal Transsylvanien, und stelle mir dort auf einem Stein mein gut
lesbares Epitaph vor.
Steht
dieses "Jetzt" aus, steht vor dem Turm der Bergkirche, sie steht, sie
wird lange hier stehen, noch lesbar, sie überragt alles, sie ist klobig,
zeitfern, und ist doch, als wäre ihr Gedächtnis ein Stück Zeitlosigkeit,
sie, das Gesicht
meiner Erinnerung, und sah ja auch, daß die Fenster in der Bergkirche Katzenaugen
sind.
Ich gehe weiter. Der Burghüter Georgi, ein
hagerer agiler Mann überholt mich, er fragt, ob ich noch auf den Turm steigen
wolle, die Große Glocke und das Panorama sehn, ob ich die Kirche sehen wolle,
ja, ich wollte die Kirche sehen, Georgi läßt mich in die Kirche ein, es hallt,
und da höre ich die Orgel, ich wundere mich, Daniel ist doch längst tot, und
nur er spielte diese Fuge von Bach. Vorn wie immer die vier Evangelisten, das
Kreuz; es wird gebaut, renoviert, Georgi zeigt auf die Fresken, ich aber stehe
vor dem Grabstein des Senators Mann, und
höre Stimmen, Freunde, Bekannte
kommen hinzu, es ist Sonntag, wir begrüßen uns, als wäre nichts geschehen und
gewesen; wie aber soll ich dem Senator, erklären, daß ich nicht mehr hier lebe,
sondern im fernen Italien, ich höre ihn danach fragen... Deiner Sprache,
deiner Sitte, deinen Toten bleibe treu... Italien? Ich starre ihn an, als Kind
habe ich ihn oft gesehen, und erkenne ihn wieder. Großvaters Geschichten über
ihn, sie kommen jetzt wieder, als hörte ich seine Stimme, sie hallt im Gewölbe
wider, obwohl er ganz leise, kaum vernehmbar spricht, es ist schon ein Spaß, denke ich, nehme mein
Notizbuch und schreibe weiter und alles auf:
Dann kommt Georgi, er fragt wieder, ob wir
noch auf den Turm wollen, die Große Glocke und das Panorama sehn? Nein. Aber
wir wollen die Gräber sehen. Grabstein meines Großvaters, diesen Namen...
Georgi war gesprächig. Er sagt, jemand sei da gewesen, mit einem Buch von mir,
sagt es, als er meinen Namen hört, liest
auf dem Grabstein meines Großvaters diesen Namen, die Schrift ist sehr
verblasst, ich gebe ihm zehn Mark und bitte ihn, sie auffrischen zu lassen, er
sagt, ja, ein Leser, so habe er sich vorgestellt, sei dagewesen, und habe die
Kirche und auch das Grab meines
Großvaters nach der Beschreibung im Buch "abgegangen", ja, so sagt
er, abgegangen. Er habe auch die Familientafel
verglichen, die Namen. Und ich sehe jetzt den Namen der Mitzmother, geb.
Wagner. Den andern Namen verschweige ich mir.
Der
Name ist das Gewesene. Auch meiner. An ihm hängt das gelebte Leben wie ein
Grab. Das Kommende, das offen ist, wird vernachlässigt, aufgehalten. Ist dieses
Unbehagen an meinem bisherigen Leben, nein, daran, es fortzuführen, und auch
weiter "Heimat" hier zu suchen, ein Bewußtsein des Zeitungerechten?
Der Name, die Namen auch Zitate, Selbstzitate wie die Figuren in einem Text?
Langsame Zeit, die schal ist, abgelegt, quält, wie das Warten mit der Familie
auf einem Bahnhof. Auch hier in S. Hier ist der Schock zu langsam. Und dieses
Entkommen nötig. Die alten Toten, die neuen Toten. Als wären sie ihnen
überlegen. Scham. Schon bei Vaters Tod hatte ich dies erkannt. Die Revolution
als lichtschneller Aufbruch und Schockmoment allein gibt hier neue Dignität,
die Begegnung mit dem Toten vom Fernsehen am 21. Dezember 89. Die Alte im Gemäuer.
Aber dies Posthume meines Namens, auch
dort auf dem alten Grabstein, dem ich entkommen bin, heißt nicht, daß ich ihn
ab- legen kann, wohin, in welche Kammer: die Schrift verfolgt mich in den
Büchern, die vom Gewesenen und Vergangenen handeln, auch von den beiden, als
sie noch lebten, so ein wenig weiter leben, nicht nur für mich. VERWESER also?
Was verwest aber, was bleibt? Unbehagen vorerst.
Die
Schrift ist aber sehr verblasst, ich gebe Georgi nochmals zehn Mark und bitte ihn dringend, sie
auffrischen zu lassen. Der Name ist das Gewesene, denke ich und wundere mich,
daß ich ihn auffrischen lassen will!
Alles so ruhig, Knospen. Vogelgezwitscher, alles wie nicht da.
Als gäbe es eine Beziehung zwischen dem
Alterszustand der Welt und der Person. Doch ich habe ihn erst jetzt nach 1989 akzeptiert,
das Langsame, das zu erreichen sei, also das Gewesene, endlich abgelegt. Der
Traditionsbruch ist endgültig. Und das Gefühlige, das Zeit braucht, gehört zum
Gewesenen. Trauer, Melancholie. Ohnmacht. Unlust. Denn es schien bisher alles bequem
geschlossen, lernbar, machbar, planbar, erfahrbar. Das ist aus .
Wie lange ist der Grabplatz eigentlich
gemietet, frage ich Georgi, den Friedhofswächter.
Noch
sehr lang, sagt der: Jetzt ist ja viel Platz hier! Und lacht. Das Grab ist
schief, der Betonrahmen eingesunken. Ich sage, wie kann man das reparieren. Er:
eigentlich nur, wenn ein neuer Sarg hineinkommen soll, wenn ein neues Grab
geschaufelt wird.
Diesem Grab bin ich entkommen, murmelte ich.
Alles so ruhig, Knospen. Erdgeruch an den
Händen, ich habe das Grab angefaßt, Erde, Lehm klebt an den Fingern. Keine
Blume auf dem Grab. Vogelgezwitscher, alles wie nicht da. Ich warte, bis alles
vergangen ist, dann kommen die Geheimnisse. Hoffentlich wieder. Die Frauen
können es besser, auch Jann. Sie spricht zu Hause mit ihren Bougainvilleas. Die
Mitzmother mit ihren blaßvioletten Klematis an der Laube. Und Tante Friederike
redete mit ihren Zimmerpflanzen beim Gießen gegen die Einsamkeit an: Na, ihr
Lieben, wie geht es euch heute, schön, schön, blüht nur, blüht. Und ich seh auf
den Turmhahn, denk an ihren Mörike-Vers: "Zuoberst auf dem
kleinen Kranz/ Der Schmied mich auf ein Stänglein pflanzt. - Rührend. Wer so schwingen könnt. Und sehnte mich
jahrelang danach, in solcher Geruhsamkeit aufzugehen, dachte sie sei hier. Hier
ist der Tod im Staub hinaus bis auf die Gasse und den Hof. Ein sehr alter,
verrotteter Tod, der auch schon gestorben ist.
Ein Loch mit zwei Seiten, der Wind, ein
merkwürdiges Geräusch, keine Blätter, die Bäume noch entlaubt, wie Skelette,
doch irgendwo zu hören, eine lebendige Stille, Vögel, alles entzogen,
abgeschieden, nur Friederike hatte die verlorene, weil zu gewiß artikulierte
Sprache verloren, sich im weichen Singen der Luft gefunden, und sie spreche
gerne mit ihren Blumen, sagte sie, als sie noch lebte, die Vasen, hier, das
Blumenwasser ist faulig, erneuere es. Wieviele Mütter gäbe es hier, auch ihre
Mutter lag wie eine ewige Täuschung hier unter der Erde, wie dicht doch so ein
irdisches Auge mache, das Schwingen der Atome nicht mal erkannt, ist es ja
selbst, als Licht, wie soll es da etwas erkennen, das Erkenntnis sei,
rätselhaft, und früher hatte sie Angst vor Geistern, jetzt ein ganz normales
Leben, und Mütter, wie die Musik, lassen den Tod nicht zu, der ein Männergeschwätz
sei. Jaja, genau so, und Kriege bis Todesstrafen, Vernichtung im Herzen. Du
hast es selbst einmal erlebt, wurdest ins Furchtbare gerettet... Wer aber bittet noch für dich, ein Mutterland?
Hörst du den Schlag, ein Sirren der großen Uhr, jetzt sogar die mittlere
Glocke, und ein Läuten der Kathedrale, es muß fünf Uhr sein. Ja, die Glocke,
die hörst du. Und erinnerst dich: blumengeschmückte Waggons, Freiwillige, hier
an die Front gefahren. Männer aus halbgeöffneten Fenstern winken, Mütter auf
dem Perron, und wie die Bewegung des Zuges den Verlobten, SS-Freiwilligen, da
von der Hand des Mädchens losreißt, und sie schrie, siehst der Zeit nach, die
Fahrenden sahen nur noch hinter Glas die Stadtsilhouette, denn das Bild war und
ist bewegt, noch immer. Keiner wird je zurückkehren, die Lebenden schon gar
nicht, die Toten aber sind im Augenblick,
der nie vergeht... Morgensonne blendet noch immer durch die Blätter des Nußbaumes,
Morgengeruch, alles nah, wie der Geruch eines Apfels, Sein Geschmack, Wind,
Regen... die Türme der Stadt, wie Schemen, mit dem Rücken nur noch gesehen,
dazu eine Glocke wie eine Armesünderglocke
schwer über dem Land, 55 Jahre.
Winzig und wie ein
schlimmer Spaß daneben meine Versuche, die Heimatlandschaft in mir zum
Verschwinden zu bringen, liebe Züge: Kurven der Wench, Flußwindungen, Brücken,
wie die aus Holz, die Maria-Theresia-Brücke hieß und der alte Nußbaum im
Kinderland des Sommergartens, jetzt im Blitz des Vergehens unter der Sonne nur
noch ein Skelett, schöne Silhouette der Stadt Schesz-Brich, Schäßburg im
Abendlicht: Ein matteres Gelb, verwelkendes Blatt, wie das Rascheln am Boden,
Dezemberwinde wirbeln sie noch einmal hoch. O wie ist es kalt geworden/ und so
traurig öd und leer, am Schulberg gehst du hinab den Weg vom Tor der Bergkirche
und zum Familiengrab des Karl K., der schwarze Stein mit Goldschrift,
geschwungen, verschnörkelt, gotische Buchstaben, die Ami unter der Erde, der
K.-Großvater ist schon in Deutschland begraben. Der S.-Großvater aber liegt
hier, zu Hause, + 1946. Und die Mitzmother neben ihm. Stille, Ruhe sanft. Engel
und Jugendstil, Modergeruch und Zypressen, verbrauchtes Blumenwasser, die
Bergglocke. Kies knirscht. Die Erde gelb und fett; auf den Bänken alte
Mütterchen, zuweilen Liebespaare. Wie längstvergangen ein Windrauschen in
großen Linden, gelb, Blätter; die vergilbte Zeit unter den Füßen, Menschenleben,
wir alle. Der Ernst kann schnell oder langsam sein. Du kamst und gingst mit
leiser Spur! Aus Gottes Hand in Gottes Hand. Ein Stimmchen dazu, ich schnitt in
seine Riinde! so manches süße Wort... Einberufung oder freiwillig, Umarmung, Tränen,
Blumen auf dem kleinen Bahnhof. Geleise, Dampf, Lokomotive fährt an. Pfeifen,
Rattatta. Fort. Kohlengeschmack. Rollen. Ein letzter Blick auf die Silhouette,
Brücken. Ziehende Gefühle. Niemehr. Muß i denn, muß i denn zuum Städtele
hinaus, Städtele hinaus. Und nie mehr wieder.
Die neuen selbstgemachten Mauern wachsen um
uns zu, die alten aber sind so arg verlassen, wie wir so selber von uns längst
verlassen sind, den guten und den bösen Geistern unserer Väter. Und brennend da
ein Punkt, kindlich gehütet, doch keiner rührt daran, die Schuld, die Scham,
die uns nur andere angetan?
Vater
ist nicht hier, er liegt in A. in Baden-Württemberg auf dem Waldfriedhof, der
ist nicht so leer, der ist ordentlich bewohnt mit Schwaben, auch Lebenden. Da
kommen sie und gehn, ganz normales FriedhofsLeben und Begräbnisse.
In der Langertstraße in A. im Appartement der
Eltern da sehe ich uns sitzen. Wir sehen Fotos an, Lichtbilder am runden Tisch.
Schön, wie die aufbewahren können. Röntgenbilder der gelebten Toten, da. Wer
ist da? hör ich Mutter. Ein verwackeltes Jugendbild des Toten, der es damals
noch sehen konnte. Zum Schießen, sagt sie, und alle lachen. Und Vater nahms in
die Hand, fuhr mit dem Finger über die Ränder: Phantastisch, und es ist
unfaßbar, daß man Erinnerung jetzt so zurückspulen kann. Struwwelhaare hattest
du. Aber jetzt hab ich keine Struwwelhaare mehr, sagt er. Du warst eben
jünger... - Einzig die Rührung ist am
Platz, hier, denkst du jetzt: aber die ist ja nur ein Hauch, ein Nichts, das
vergeht. Und das sind die Großeltern, sagt er. Wie alt waren sie als sie
starben? 74. Das war Vaters Stimme: Sie
sind in Schäßburg begraben, dort wo die Heidelischen wohnen....Pause, großes
Gelächter. Vater vor allem, lacht, lacht, Tränen rinnen über sein kleines
Gesicht. Korrigiert sich: wo die Heidelischen begraben sind! Diffus, verwischt,
wie der Familienalltag: Jetzt. Inmitten dieser Fotos, Haufen von Bildern toter Leute. Komisch ists schon, wie wenig
ernst wir das nehmen, und tun so, als lebten sie noch. Leben sie? Zwischen den
Fotos eine alte Ansichtskarte meiner Schwester: Lieber Tutsche, liebe Mutsche,
viele Pussi von Maus. Familienjargon. Oh, diese schöne Nähe. Das war dann
vorbei, als alle frei und oben waren.
Traurig und unsicher war Mutter am Anfang in Deutschland, und eine
Schmollfalte unter dem zusammengepressten Mund war oft zu sehn. Angst, nicht
mitzukommen mit der Kälte, der Distanz der Leute, dieser Fremdheit, die sogar
im Geruch der Luft spürbar wurde. Woher nur, wieso und warum? fragte sie
verzweifelt immer wieder! Die Leute sind doch so nett. Woran leiden sie alle?
Aber
das Heimweh, das wurde langsam schwächer, sie sei nun fast geheilt, sagte sie,
nach Vaters Tod erst geheilt. Ihre Heirat, ach, so lang her, 1932. Und Vater
liege ja nun hier, alles liege nun hier, auch die Erinnerungen unten in S., wie
begraben. Wir sind ja nicht allein, und selber schuld, hier zu sein, sagte sie.
Doch Du bist daran schuld, daß ich
hier bin, versuchte ich damals zu scherzen. Das ist vergangen, alles vergangen.
Vaters Stimme, diese Nähe, so, als löse sich die harte Kontur der
anwesenden Dinge auf, als strahle wieder eine gelbe Wand, als wären wir wieder
im Sommerhaus auf der Steilau, feuchte Wände, Rauch in der Küche, da ruft die
Stimme wieder: er spannt dir einen Bogen, er setzt einen Rohrpfeil ein, oben
von der Terrasse schießt du ihn in den Schleifengraben, oder hoch in den
blauen Himmel. Als wärs ein Erwachen: Und jetzt bist du hier in Schäßburg,
morgen wirst du diese Terrasse, das Haus sehn, den Maulbeerbaum, ich schmecke
die blauschwarzen Beeren.
Ich erinnere mich: Vater in A., da zählte
er, wann war das, die Klassenkameraden auf einem alten Schulfoto. Oben vor der
Eingangstür des "Bischof Teutsch Gymnasiums". Morgen wirst du es
sehen, sag' ich, du bist hier, du stehst vor einem anderen Grab, hier in
Schäßburg stehst du jetzt mit mir. Er aber, er steht in meiner Erinnerung,
liegt dort fest: Hat die Fotos in der Wohnung in A. vor sich, von den Fotos
ausgehend, redet Mama von diesen unmöglichen Hüten, die die Frauen damals
trugen, Wagenräder mit Blumengesichtern, auch die Mitzmother hatte so ein Wagenrad.
Da kannst du schon sehen, was die Frauen früher dem Mann zu Liebe alles tragen
mußten, um ihrem Herrn und Gebieter zu dienen, sagte Mutter. Und die waren so
verschiedene Naturen, sagt sie, mein Vater und meine Mutter, die Mutter noch
ein halbes Kind, sie hat mit 18 geheiratet. Und der Großvater war sehr
autoritär. Und der wollte sie auch irgendwie noch erziehen.
Es war doch so,
diese Generation, wo die Frau vom Mann geformt wurde. Und der Mann es sich
anmaßt... sie war auch materiell ganz von ihm abhängig. Sie konnte auch nicht
sehr wirtschaften. Sie war eine vollkommen andere Natur, so mehr für
schöngeistige Sachen; für Natur; und mein Vater hat dann manchmal gesagt, er
habe ihr aus ihrer Kasse Geld genommen und sie habe nichts gemerkt. Und es war
ihr zuwider, immer dieses Geld, so genau abzurechnen und einzuteilen. Und der
Großvater, ja bei dem war das so: Das Bäurisch-Sächsische, etwas schaffen von
bleibendem Wert.
Plötzlich rieche
ich diesen starken Geruch nach Erde des Steilaugartens, schwarze Walderde,
Wurzeln, Humus, faulende Blätter, die frisch gegrabenen Wege, umgeworfene Erde,
Engerlinge, Steine.
Er hat gut
verdient, und dann hat er doch gesagt, es gehe immer so viel Geld weg für
"Plunder"; und dabei war doch die Mutter an und für sich sehr
anspruchslos, sie hat nicht wie andere Frauen Toiletten oder Kleider verlangt,
sie war enorm anspruchslos. Er hatte eigentlich keinen Grund, dauernd böse mit
ihr zu sein. Was weiß ich, was eswar, was er eigentlich wollte.
Eifersüchtig war er
vielleicht, sage ich
Ja, sagt Vater: Er
war eifersüchtig, er war immer eifersüchtig.
aber er hatte doch
keinen Grund: Mutters Stimme hoch, schnell, nachdrücklich: Sie hat ihm doch keinen
Anlaß gegeben.
Doch, doch, sage
ich: Er hatte immer Angst, das Erworbene zu verlieren, hat immer Angst gehabt;
daher das verfluchte Bleibende. Hat der Großvater nicht wie ein Hahn auf alle
seine Frauen mit Argusaugen aufgepaßt. Nach den Tod der Großmutter und nach dem
Georgs auch Friederike eifersüchtig überwacht und beleidigt?
Ja, das ist wahr,
sagt Mutter.
Friederike aber
wendet sich ab.
Was geschieht, wenn
die Eltern, wenn alle Verwandten tot sind, schwindet dann nicht jede Bindung an
den Ort unserer Herkunft. Jene Stadt wie jene Zeit, die wir nie so bewohnt
haben wie die Älteren, war unser Boden nur für sehr kurze Zeit. Und doch haben
sie uns mit hineingezogen in jenen Wahnsinn, wir können ihm nicht mehr
entkommen!
Zum Beispiel, daß
viele, auch Großvater, nicht akzeptieren konnten, was Daniel und einige
"unverantwortliche" Prediger behaupteten: Es gäbe da einen einsamen
Raum des Gewissens, der jeder irdischen Macht entzogen sei, auch allen Geboten
irdischer Gemeinschaften.
Gott war für sie
ein Vater mit Zuchtrute zur Anständigkeit und zum "Zusammenreißen",
beim "Sichgehenlassen" hatte das Gewissen zu schlagen.
Er hatte etwas
Korpsstudentisches behalten, der K.-Großvater, man hätte sich die bunte
Studentenmütze samt Schläger über seinem Schreibtisch vorstellen können, das
Bierglas, ja, das gabs auch noch, und der Schmiß über der Backe blieb. Und dies
Forsche, das manchmal bei ihm hochkam, die betonte, burschikose Männlichkeit.
Und die Humorigkeit beim Stammtisch im "Stern", dem Altherrenclub
"Die morschen Knochen": "Habe die Ehre", sagten sie alle
noch, wie in der Monarchie. Es gefiel ihm, drollige Spitznamen zu erfinden. So
sagte er zum kleinen Werner nur noch "der Kirchenmann" oder zu Hannes
"Dick" und zu Carmen "Maus". Dann freilich auch Bildungsbürgerliches;
Zitate kamen, zuweilen Lateinisches oder Ironisaches: Sieh da, sieh da,
Timotheus. Auch mit Pro patria gabs einiges. Und sehr ernst: Mer wälle bleiwen
wat mer seng.
Unsere schlimmste
Krankheit: Das Verheimlichen. Das Schöne aufrecht erhalten und Die Harmonie.
Hohe Kunst der Lebenslüge.
Jetzt
sind sie alle tot. Lasse ich sie nun hier in meinem Gedächtnis wieder
auferstehen?
Das
Erwachen an diesem Tag; auch das schon vergangen. Ich gebe es zu, ich sitze
hier, aber ich bewege mich nicht, im Kopf geht alles vor sich wie im Traum, ich
setze mich zusammen - wider die reale Zeit, die eben erst vergangene hier:
diese, setze ich mich zusammen. Ein
Abglanz von Freiheit. Mit zusammengebissenen Zähnen, die so auch wachsen
können! Ja zu sagen.
Die Außenwelt ist im Verschwinden, hier findet
das Modell des kleinen Untergangs statt. Und jene schöne alte Erinnerung, samt
den Gedanken dazu mit ihrer Langsamkeit, ist für unsere abgemagerten Sinne zu
schön: jetzt ist alles nur noch im Buch geborgen und zusammengeführt; die
Wirklichkeit gibt es nicht mehr.
Nur eines ist verändert: die Angstwand, sie
gibt es nicht mehr, freilich dahinter dehnt sich ein im Vergessen
wachsender Abgrund, und diesen Abgrund zur Kindheit sollte ich jetzt
überspringen. Zu spät "normal" zu werden. Es war eher ein Verlust des
letzten Alibis, nicht leben zu können. Wohin nun mit der Exilfähigkeit, ohne
ein ordentliches Exil mit Angsthintergründen,
die daraus etwas Heroisches gemacht hatten, so daß man gut damit leben konnte,
nicht-lebend.
Als
ich heute in der Baiergasse an den Kränen des Tyrannen vorbeikam, die hier
immer noch standen, die Häuser: ein Teil liegt schon in Trümmern, dachte ich:
wie nach einem Erdbeben oder nach einem Luftangriff, so sieht ein Teil des
Neuen Marktes, der Mühlgasse aus. Die Kräne strecken ihre gewaltigen
Märklin-Spinnenarme in den heimatlichen Himmel, den ich gesucht hatte.
Und
ich biege in die Mühlgasse ein, sehe die alten Torbögen nicht mehr, kein fauler
Geruch, da kannst du dich nie mehr hineinlehnen. Hier, dieser Trümmerhaufen:
das ist Hubatsch, der Bäcker, da holten
wir die Semmeln, und dieser Schutthaufen vis á vis das Haus von Reinhard Pretz,
mit Großvater holten wir bei dem seltene Briefmarken, der hatte auch die Blaue
Mauritius, und in diesem nicht mehr vorhandenen Haus hatte meine Mutter als
Kind gewohnt.
Erschütternde Szenen von weinenden Müttern am Grab der im Dezember 89
Gefallenen. Dann von einer Alten, die in eine Betonwohnung verbannt worden war,
sitzt da, die alte Bäurin wie in der Zelle. Ich habe nichts, kein Stück Garten,
weder Hühner, noch eine Kuh, wovon soll ich leben. Alles haben sie mir
genommen. Schlimmer als in der Zeit der Türken. Sie weint. Ich habe mein Leben
lang gearbeitet, und mit einigen tausend Lei pro Monat soll ich auskommen? Der
"Neubau" ist schon halb verfallen. Unbeschreibliche Szenen, Küche,
Klo. Kein Bad. Haufenweise Dreck, Risse in der Mauer.
Ich suchte nach einem
Telephonbuch, ging zuerst in einen Optikerladen, dort ließ ich meine Brille,
deren Rahmen sich verbogen hatte, geradebiegen, werde ich nun besser sehen
können? ich ging dann in einen Bäckerladen, früher "Kwischinsky", wo
ich als Kind Stollwerck gekauft hatte, und schließlich in ein obskures Amt im
Toreingang zum Baruchhaus, wo ich vor
einigen Jahrzehnten geboren worden war, also "auf die Welt gekommen,"
eine ganz andere Welt freilich.
Die Eingangstür, die Glocke sind noch da.
Jetzt ein armer Staatsladen, auch nach der "Revolution".
Ich,
ein neutraler Ort in der schon
vorgestrigen Nachfolge? Da gibt's keine Lücken, keine Tunnels mehr, wo ich durchschlüpfen
kann, als fiele ein Licht von der Ursprungsschrift hier ein. Müssen da nicht
noch an jener Ecke, nahe der Kokel die Pferde und faden Gerüche stehen,
Zeitungen von 1944, wegen der Nachrichten von "heute", am Eiskeller
dort in der Trafik sind sie zu
kaufen. Sie fallen vielleicht noch auf dieses Zeichen. PRAETERITA MUTARE NEMO
POTEST. Am Stundturm, heißt es, unter der Sonnenuhr da soll jener Spruch einmal
gestanden haben. Von der Zeit gelöscht. Am Wietenberg aber die Platten vom
"Ewigen Buch" Szaruga. Eine Vielzahl von Platten gabs, die, in der
ganzen Welt verstreut, nur bruchstückhaft aufzufinden sind; wären sie noch alle
vorhanden, könnte man die Reihenfolge, die richtige, festlegen, mit der sie
unter die Sonnenuhr gelegt, von ihrem Zeiger gelesen werden könnten.
Was suchst du da, Erleuchtungen, um wirklich
heimzukehren? Lesbarkeit des Verborgenen, "Berührung": Daß das
Wirkliche identisch sei mit dem Geschriebenen? Da mußt du doch nur zum
Grundbuchamt gehn, hör ich meinen Großvater. Besuch beim Grundbuchamt im
Hämchen, ja, das steht mir novh bevor, alles, alle unsere Häuser sind dort noch
eingetragen.
Es funkt
zwar zwischen meinen beiden Lebenshälften; ich meine, Unvorstellbares zu
träumen. Im ehemaligen "Geschäft" meines Großvaters ist jetzt eine
Konditorei. Auch da sah ich und erkannte Einzelheiten. Es gab nur einen trüben
Saft zu trinken, sonst nichts. Konditorei. Und alles so klein und unbewohnbar.
Es ist anders, als ich mich erinnern kann. Sonntag, ein früher Morgen oder Ostern schienen hier nicht mehr möglich. Auch die Käuzchen, die ich in
der Nacht hörte, waren irgendwie unbrauchbar für mein Gefühl. Etwas
Alptraumähnliches geschieht hier in der Sonne, unter dem blauen Märzhimmel
zwischen den Fassaden der doch schön renovierten alten Stadt. Menschen und
Stadt passen nicht zusammen.
Restaurants, Konditoreien, Geschäfte überfüllt,
das Angebot mager. Auf der Hauptstraße eine graue Menschenmenge, kaum
Autos, im Park ein Fuhrwerk, Pferde. Tauben.
Häuserzeilen, Gassen sind leer. Ich besuche
Verwandte. Die Familie Norberts. Eine ältere Verwandte sagt, sie habe
leichteren Herzens 1945 die
Verschleppung nach Rußland ertragen: diese Verschleppung aber nach Deutschland
sei für immer und ewig, wir sind am ausgehen, ein Wald von dünnen Kerzen.
Was
aber passiert, wenn wir gebrechlich werden. Ich habe mir das
"Altersheim" angesehen, sagte die Verwandte: es ist im ehemaligen
Arrest der Stadt. "Nein, danke." Es wird jetzt besser, sag ich. Es
gibt inzwischen sächsische Altenheime. Wann? Das Haus gehört uns. Hier, in
diesem Bett bin ich geboren. Wir sind fast froh, daß es mit dem Paß nicht so
schnell klappt. Salz der Erde? Haha. Glaub doch daran. Ohne diese einzige
Gewißheit wird auch das erhoffte Echo, und du mit ihm sterben. Kannst nicht
dauernd nur im Nichtzuhause leben. Ohne erinnerte Zeit, die euch im Westen
erwartet, ist die Gegenwart ein Trümmerhaufen, wir mit ihr. Gräßliche
Zeitlosigkeit scheint aber auch hier ausgebrochen. Jetzt hat sich der Text
umgekehrt, übergangslos ist er die Realität selbst.
Aber welch ein Umweg des Todes, der
Zerstörung, um zurückzukehren zum "Alten". Der Alte, ja, wo sich der
aber aufhält, versteckt. Hinter welchem unsichtbaren Paradiesbaum?
Und dann gehe ich zum Baruchhaus, zum
Gassenhaus, mein Geburtshaus. Schön, wie Kindergedanken kommen, erinnert, lebt
dieses Haus, dieser Toreingang, dieser Hof mit den Katzenköpfen noch. Jetzt
sitzen dort drei traurige Menschen, der Vater, er ist Eisendreher, nun krank,
die Lunge, er fragt nach Medikamenten. Ich sage: das Rote Kreuz. Die Mutter mit
dem Sohn in der Küche. Der Sohn hat eine Siebenbürger Sächsin geheiratet, sie
werden auswandern, sagt die Mutter müde von der großen Traurigkeit,
niedergeschlagen; sie hebt den Kopf die ganze Zeit nicht hoch, sie hebt ihn
nicht wirklich, er bleibt auf der Tischplatte liegen. Das Haus, sagt der Vater,
soll abgerissen werden. Er weiß gar nicht, daß die Vernichtung gestoppt worden
ist. Für sie ist die Revolution wie nicht gewesen; der Alltag ja, der geht so
weiter, wie die Sekunden. Sie scheinen zu frieren. Ein Frösteln in allen
Räumen. Ich gebe ihnen eine von Gisela abgelegte Pelzjacke.
Spiegel der alten Täuschungen, ich versuchte in den Garten zu gehen zur
alten Trauerweide zu gehen, das Großvaterhaus, den wackligen Gang, den Hof mit
dem "Galgen" wiederzufinden, wo Großvater Pferde anband, seine
Patienten, das Fell zuckte, dicke Bremsen lagen auf dem haarigen Glanz, der Ort ist nicht mehr vorhanden, das Haus
gibt es nicht mehr, es ist abgerissen worden; und die Katzen neben dem Haustor
hatten eingerissene Ohren. Ein Wasserschaff mit Regenwasser stand früher am
Kellerfenster. Nichts mehr davon, alles abgerissen, eine Asphaltstraße führt
darüber hinweg, Bitum. Zugedeckt. Wer so die Wunden verheilt? Im Garten
streckten sich Schneehügel über die vergessenen Krautköpfe. Dürre Kümmelstengel rasselten,
letzte, unhörbare Geräusche...
Und dort, ja im Garten der Bombentrichter,
zehn Meter Durchmesser. Friederike bügelte in der Küche, da gab es einen
gewaltigen Knall, ein Stein rollte aus heiterem Himmel auf den Gang, Fenster
klirrten, verrückt gewordenes Espenlaub, zittert innen, und alles schepperte,
Augen, Pupillen geweitet vor Angst. Nicht mal mehr Schlamm drüber, Kokel, Fluß.
Und Friederikes Augen längst geschlossen, für immer, sagst du. Jedermann. Und
jenes Buch geschlossen, unauffindbar, Bleistiftzeichnung auf einem grünen Buch
von der Schönen Lau im blauen Mädchenzimmer, das Friederike gehörte. "Die
Wasserfrau ist kommen/ Gekrochen und geschwommen." Der Blautopf. Der ist
geblieben. Und sind wir nicht alle "oben", sagt einer und lacht. Wenns nur nicht der Töff oder Tallo wär, SS-
Ingenieur. Stalingrad. Und so. Oder die Nibelungen. Und in der Heeiiimat, da
gibt's ein Hastdumichgesehn... Zeit, bleib bitte stehen: Die Augen fest geschlossen.
Gewehre. Wie doch die Alten und die Toten so nah kommen, hier reden. Wie sie
lachen und sich erinnern:
Und
noch mehr hing es irgendwie auch mit den Baruchs und den Mendels zusammen, denn einmal da ging
ich mit Georg und Tata die steilen Treppen zum Gang des Baruchhauses hinauf,
wir hatten ja die Schlüssel, gingen den wackligen Gang meines Geburtshauses,
denn das wars ja, entlang, über die Himmelstreppe zum Dachboden hinauf: da, wo
ich schon als Zweijähriger das angewärmte Holz des Treppchens angefaßt, gefühlt
hatte, als wärs das erstemal, es ist in meinen Fingerspitzen bis auf den
heutigen Tag da, sonnenwarmes Holz, und dann das rötliche verrostete Eisen des
Geländers, ich spielte, und ein Schiewer kam mir ins Fingerchen rein, ins
Fleisch es tat weh ich lief heulend zu
Mama in die Küche, ja, dort ist ein Stimmengewirr, dort, wo früher unsere rote
Stehlampe gestanden hatte, der rote Tisch, und ich in die Fassung reingefasst
hatte, ein Stromschlag mich wie ein furchtbarer Blitz durchzuckt hatte, ja, da
hörten die Mendels und die Baruchs „Feindsender“... Und hör Vater wieder
unheimlich ruhig: Nichts da. Nichts wird angezeigt ...
Stimmen...
auchs eine Stimme...Alles so nahe wie im Körper, in Haut und Haar; als Vater
starb, im Zug auf dem Weg zu seiner Beerdigung, faßte ich meinen Arm an, als
wäre es seiner, die Flimmerhärchen da an
der Handoberfläche, nur gegen das Licht erkennbar, Flimmerhärchen auch auf der Wange; und der Geschmack im Mund, der Geruch, die Weichheit und die
Fäulnis; und plötzlich - während Hannah die belegten Brote, die Äpfel auspackte, und ich in einen Apfel biß, meine Zähne im
Fruchtfleisch Spuren hinterließen, Saft
herabtropfte, dazu das bekannte Krachen, überkam mich Ekel vor diesem Fleischbalg, in dem ich
steckte, widerlich diese Kreatürlichkeit, ein faulender Balg, der uns von uns, von ihnen trennt. Und
jetzt ist er fort, weil es Haut und Haar gibt, nur dieses Unappetitliche,
Weiche uns ermöglicht, hier im Licht zu sein. Vater blies die Backen auf,
tremolierte Märsche, ich seh ihn jetzt vor mir. Ob er den gleichen Mund- und
Zungengeschmack gehabt hatte wie ich?
Alle hatten anfangs eine merkwürdige
Euphorie der Trauer, wie eine Droge, dann kam der schlimme Alltag
wieder, schon nach der Rückkehr vom Friedhof, wo wir ohne ihn waren, ein für
allemal ohne ihn. Ich fürchtete für Mutter. Doch Friederike
sagte: Du wirst sehen, er war auch ein Großer Schatten vor ihr, nun ist
sie freier. Aber in den ersten Jahren konnte davon keine Rede sein, er war
einfach fort, hatte seine Kleider im Schrank hängen lassen, die Schuhe standen
noch lange dort. Mutter wollte, wir sollten seine Sachen an uns nehmen, sie
anziehen, seinen abgetragenen grauen Mantel, mit dem er einkaufen ging, der
hängt noch im Vorzimmer. Sie oder ich, wir alle konnten es freilich nicht
fassen, wie es Tanja jetzt nicht fassen
konnte. Mutter aber zerquälte sich, machte sich Vorwürfe, als hätte sie
irgendetwas ändern können, hab ich Vielleicht etwas versäumt, fragte sie andauernd.
Als könnte man alles einrichten, alles selbst bestimmen, wenn man nur den
richtigen Dreh hat. Mama, du bist ja eine Heidin, sagte ich dann. Es war ja nur die Unfähigkeit diesen Abgrund,
das, was uns von der eigentlichen Wirklichkeit trennt, als Schmerz und gelebte Erkenntnis wahrzunehmen. Sind wir
unfähig dazu? Es darf nie vorbei sein, nie vorbei sein, nie. Denn wie kann
etwas vorbei sein und endgültig vergangen sein? Es geht alles vorüber, es geht
alles vorbei, nach jedem Dezember kommt wieder ein Mai. Sang sie früher. Oder
auch: ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den Siebenten Himmel der
Liebe. Wo der auf der Erde wohl ist?! Es
war alles wie eine letzte Stunde, und
der Wachzustand nur ein träumender Zustand, aus
dem ich hochschreckte, vielleicht
erwachen konnte. Und jetzt, jetzt, erwache ich, reibe ich mir die Augen, weiß,
daß ich bald zu Hause sein werde? Ein weißes Säcken mit Erde von zu Hause
hatten wir Vater beim Begräbnis unter
den Kopf gelegt. Erstaunt sah ich, daß
sie alle nicht an das glauben, was hinter dem Bild "Gott" steht; sie
gehn in die Kirche, sie haben es mit dem Pfarrer, sie lassen taufen, heiraten,
begraben mit Glocken, Predigten und Orgeln, aber das Letzte daran, nein: das
ist nicht da, jener Punkt, wo es ernst wird, wo es um den Tod geht, den letzten
Abschied ohne Orgeln und Predigt, den
kennen sie nicht. Was ist die
"Krone des Lebens", fragte mich meine Schwester. Und was heißt,
" getreu bis in den Tod"? In allem, was sie sehe und fühle, fühle sie
nun auch ihn, flüsterte sie, die ihn, genau wie ich auch, nicht mehr sehen
wollte, und dann doch in die Totenkammer
ging, weinend wieder herausrannte, denn dort lag nur ein lebloser
Abdruck von ihm, der ihm kaum mehr glich, doch eindeutig war es seine Hand, an
der die Finger nach abwärts, der Erde zu zeigten, diese ernsten Hände,
blaugeädert, hauchdünn nun, blaß, sie lagen auf der Brust, über ihnen aber ein
entstelltes, gleichzeitig hochgestelltes Gesicht, das sich uns entzog, aber uns
seltsam auch mitzog. Das mit der Krone, sagte ich ihr, das ist eigentlich ein
alter jüdischer Psalm. Aber Michael, wie kannst du nur so etwas sagen? Ja,
ehrlich. Aber Vater hat das sicher nicht so aufgefaßt, das wäre ihm fremd
gewesen. Ja, es wäre ihm vielleicht unheimlich gewesen, aber nicht so
unheimlich wie zum Beispiel Mutter oder Tante Friederike, die in der Nacht nach
seinem Tode, Angst hatten, allen in der Wohnung zu schlafen, Hannes mußte dabei
sein. Hatten sie unbewußt Angst, daß er vielleicht wiederkäme, aus einem Reich,
das ihnen unvorstellbar ist und ihnen deshalb graut! Und Friederike ging sofort
hinaus, als ich anfing über diese Dinge zu reden, sie kann es nicht ertragen,
sie bekommt sofort "ihre Zustände". Und über die Baruchs, die im
Gassenhaus wohnten, sagte sie, die sind mir unheimlich. ... oben saß die
Stefi, sie hatte schwarzes Haar, sie saß
oben vor der weißen Eingangstür, ein
dunkler Spalt öffnete sich, ich kann ins Vorzimmer hineinsehen, die Stefi steht hoch oben auf der Treppe als könnte sie
fliegen, ein schwarzweißer Vogel, ich kann ihr unter den Rock sehen, es blitzt. Vater geht unten vorbei und zieht
den Hut, sagt: "Küß die Hand"! Er sagt nicht wie sonst "Grüß Gott!"
Stefi ist schön, ihre schwarzen
Augen sind feucht, als leuchteten Kohlen aus der weißen Tür. Milch, Blut und
Rosen. ich bin klein und sie ist ein großes Mädchen, sie ist eine junge Frau.
Eine Jüdin, sagt Friederike flüsternd: die sprechen ein verhunztes Deutsch. Und
es heißt, sie sollen an etwas Unanständiges glauben. In der Kleingasse steht die Judenschule, wo ihr Tschawalles zu
hören ist. Später aber haben wir im Baruchhaus
gewohnt, und dort wurde ich auch geboren. Als Kind war ich oft krank.
Ich rinze im Bett und bin ein
Wastel, drehe die rote Stehlampe wie ein
Kreisel, fasse in die Fassung, wo keine Glühbirne drin ist und eine Riesenfaust schüttelt mich, es tut innen weh, vom Schlag,
vom Stromstoß. Ich schreie wie am Spieß.
Die Narbe an der Kuppe des Zeigefingers ist noch zu sehen. Ich habe viel von
diesem Haus geträumt, ein Leben lang hab ich von diesem alten Haus
mit dem wackligen Gang und dem Klogeruch geträumt. Meine zukünftige
Frau, ich weiß, ich habe sie dann später versäumt, doch dort in jenem Haus hatte sie mich einmal
an der Hand genommen, wir gingen den weißen Korridor entlang und zitterten vor
Erregung als wir aus dem Tunnel, in den wir ganz plötzlich am Ende des Ganges
geraten waren, ins Freie kamen. Wir stiegen die Teppe hoch zur Küche. Dann das Eßzimmer: an
undichten Stellen der Dinge traten die Gefühle da wie lange Schatten aus den Seiten heraus und
wuchsen in den Raum; an der Eßzimmertür
blätterten sie auf, waren da wie altes Holz : Und an der roten Stehlampe
wie Hartgummi. Und dort hörte ich meinen Schmerzensschrei. Im Schlafzimmer
aber war ein großer Schlafsaal mit übereinanderliegenden Betten, und überall saßen Männer, vielleicht
Rotarmisten oder SS-Leute, in langen Unterhosen auf den Betträndern. Wir beide
aber waren splitternackt und begannen zu laufen, kamen aber nicht vom Fleck.
Kein Bett war frei; endlich, da - ein Platz
unter dem letzten Feldbett, der Fußboden reinlich gescheuert, und es
roch nach Seife und Lauge. Wir begannen uns ganz langsam und zärtlich zu
streicheln. Als wären wir Landkarten, dehnten wir uns ungeheuer aus, wenn wir
uns küßten und uns guttaten an empfindlichen
Stellen. Wie der Schnitt eines riesigen Moments
war es, es roch nach Äpfeln, und einer groß wie ein Stern rollte auf dem Boden auf uns zu. Als wären
auch wir zwei Apfelschnitten, zwei im Gehäuse und wir sollten zusammenwachsen
zu einem, hieß es; wie schön schimmernd die Haut und weich wie es schien zu glühen, war durchsichtig fast. Und da lagst du Michael im
Gehäuse der Eva, ein Schnitt der Liebe; klar, daß es hier keine grausen causalen und statistischen Felder mehr gab, und keine
Trennung, gar Isolierhaft; das Zimmer war ja nach allen Seiten offen, man sah
die Gestirne und ganze Konstellationen des Augenblicks: ein Apfel, zwei
zusammengewachsene Kerne: ich hatte ja den schmerzenden kleinen Baum mit dem
man Menschen pflanzt, fest in ihrer rosigen seidigen Scechina, Haar an Haar wie
im Wald Hensel und Gretel verirrt, nur im Kopf wars hell, Boten aus dem
Engeleinen, das wehtut und Not.- Und plötzlich schraken wir auf wie aus einem tiefen Schlaf, hörten
ein wieherndes Gelächter über uns, und als ich mich umsah, erkannte ich Kopf an
Kopf die gierigen Gesichter der Männer
in langen Unterhosen auf den Kasernenbetten. Alle hatten sie Maschinenpistolen umhängen. Es stand aber immer noch dieser
Duft nach Schmieröl, Regen, Schnee, Sonne, Wind und angewärmter Erde im Raum. Und dann fiel ich hinab, fiel
tief, wie man nur im Traum fällt ... und sah dann alles von oben.
Nach
Rußland deportiert worden war mit allen, die sich gestellt hatten, wegen der
Aufforderung des russischen Stadtkommandanten gestellt. Nur Deutsche. Wie
früher die Deutschen „ihre“ Juden
bestellt hatten, auf den Marktplatz – Befehl des Stadtkommandanten.
Er
war nie an der Front gewesen, Georg. Er starb aber an der gleichen Krankheit
wie Töff. Er, Georg, hatte sich beim Trompetenblasen die Zähne ruiniert, er
blies ja so schön in die Nacht hinein. Und kam nun nicht mehr wieder, Georg.
Lönslieder und den Trompeter von Säckingen... ich höre es noch heute.
Friederike
erzählt, wie es gewesen war:
Als die
Bekanntmachung des russischen Stadtkommandanten und der Polizei publik wurde, handelten alle
genau so wie vorher, ohne Widerrede und
ohne Rücksicht auf ihr kleines Leben, eben so wie wir es gewohnt waren, genau
so (ohne Räcksicht af as klien Liewen)., blind auch der neuen Obrigkeit
gehorchend. Und die Baruchischen lachten über uns und sagten noch, wenn man
euch auffordert, morgen in der Früh auf dem Marktplatz zum Erschießen
anzutreten, seid ihr vollzählig und pünktlich da. Aber sie, die Juden, hätten
es ja genau so gemacht. Vielleicht sind wir uns zu ähnlich, so daß dieses
Unglück zwischen uns passieren mußte. Dieser Wahnsinn, stell dir das vor! Und
da war doch der junge Roth, der Sohn vom Friseur, der hatte sich ja wie alle
übrigen auch gestellt, jaja, wä menj Georg uch. Wie mein Georg ja auch. Um eins
mittags mußten sie sich in der Mädchenschule melden, dort war der Sammelplatz,
sie wurden bewacht von rumänischen Polizisten und von Russen, aber man hätte
sie gar nicht bewachen müssen, sie wären sicher nicht weggelaufen, sicher
nicht! Und als man den jungen Roth nicht aufrief, alle hatten sie aufgerufen
beim Appell, nur ihn nicht, da meldete er sich wie in der Schule und sagt:
Bitte, mich hat man nicht aufgerufen. Oder hat er es vielleicht auf Rumänisch
gesagt?! Ich weiß es nicht. Ja, wir, wir waren schon ganz schön dumm, ich
packte noch Georg den Rucksack, zuerst hatten wir noch Mittaggegessen, und es
war vorgeschrieben, was man mitnehmen durfte, es gab eine Liste dafür, und ich
sagte zu ihm, als die alte Spieluhr auf der Kredenz anfing zu spielen, du weißt
ja, dieses Üb immer Treu und Redlichkeit, dies Mozartlied war auf der Walze,
die Ami hatte das so gern, man muß ja jetzt nach so vielen Jahren lachen,
obwohl mir de Zehren, die Tränen kommen,
da sagte ich, daß es ja schon dreiviertel eins sei, und sagte noch, Georg, tea
messt dech beellen, du mußt dich beeilen, sonst kist tea noch ze speet. Und er:
Jaja, ich gehe jetzt, behät dech Gott, menj Läwet uch de Känjder. Behüt dich
Gott meine Liebe, dich und die Kinder! Und ich komm bald wieder, ich bin ja
gesund. Ja, und er nahm den Rucksack vom Tisch, schnürte ihn sorgfältig zu,
ging zur Tür hinaus, über den Gang ging er, Georg, mein Mann, ich sah ihm nach,
er ging die Treppe hinab, tauchte im Hof nochmals auf, ging durch den Hof, am
Tor wandte er sich nochmals um, winkte mit einer Hand, ich sah die Hand ganz
oben, ganz oben sah ich seine Hnad, seine liebe Hand, und er verschwand dann
auf der Gasse und kam nicht wieder.
Einge hatten sich
ja auch versteckt, unter anderen auch dein Vater, änderten wie Ferdi ihren
Familiennamen, heirateten Rumänen, du kennst ja die Geschichte vom Leutnant
Popescu, der die Gret geheiratet hat, die schon in der Schule war, er holte sie
raus, fragt, ob sie schon einen Verlobten hätte, naja, sagte sie, der ist noch bei der SS. Der blutjunge
rumänische Offizier geng mät em straks zem Standesamt, ging mit ihr stracks zum
Standesamt, und sie kam als Doamna Locotenent Popescu wieder heraus, er
wünschte ihr noch viel Glück, und nach dem Krieg können wir uns wieder scheiden
lassen. Es kam aber nicht mehr dazu, er kam aus dem Krieg nicht mehr wieder,
und die Gret war nun rumänische Kriegswitwe, sie wartete noch anstandshalber
das Trauerjahr ab, und heiratete dann ihren Franzi, der gesund von der SS
wieder nach Hause gekommen war, und sie bezieht noch heute ihre rumänische
Offizierspension, obwohl sie längst in Westdeutschland lebt, in der neuen
Heimat.
Und Mama sagte, als
Friederike eine Pause machte:
296 a
Mit Salmen heute in der Stadt. Salmen ist
ein Neffe von Mendel Baruch, also ein älterer Cousin von Stefi und Mirjam, aber
er ist in der Bukowina aufgewachsen, und wurde dort schon 1940 nach
Transnistrien deportiert; wir sind Freunde geworden.
Ich hatte ihm von dieser Angst in meiner
Kindheit erzählt, da wagte ich nicht durch die Kleingasse zu gehen; was glaubst
du, was für unsinniges Zeug die Mägde erzählten. Und es wurde sogar gemunkelt,
daß die Juden Christenkinder verspeisen.
Erich lachte amüsiert. Dann mußt du
unbedingt mal meine Synagoge ansehen, damit du die Angst verlierst.
Wir gingen also durch die Hüllgasse, Salmen wohnte mit Marianne in dieser Gasse
nah vom Neuen Weg, auch da wieder bekannte Häuser, am Haus des ehemaligen Kreisleiters
Pomarius vorbei, und da hatte der Turnleher Kraus gewohnt, dann kamen wir schon zur Knabenschule, vis á
vis das Atelier des Fotografen Lurtz, der alle unsere Kinderfotos fabriziert
hatte, doch vorher schon bogen wir links ab, gingen die Katznköpfe runter in
die Kleingasse und standen vor dem nach Osten ausgerichteten Bau mit dem
Davidstern am Giebel und den drei Rundfenstren der Fassade; Erich schloß auf, und ich stand nun zum erstenmal
in „unserer“ Synagoge, Erich verwaltet sie, er, der letzte Jude Schäßburgs,
zeigte mir den Altar, die Bundeslade und stolz die Thora; der Raum relativ
klein.
Ja weißt du, sie ist 1904 erbaut worden,
erst damals entstand hier eine jüdische Gemeinde, die Leute kamen zumeist aus
Galizien, sie wohnten auch hier in der Nähe des Gotteshauses, aber es gibt das
rituelle Bad und das Schlachthaus für das koschere Fleisch nicht mehr; fpür wen
auch, für mich? Und er lacht. Damals gab es schon 300 Juden hier, und so wie
ich kamen nach dem Krieg dann wieder viele „refugiati“ aus der Bukowina, wir
waren vor den Russen geflohen. Jetzt bin ich allein, der letzte Rabbiner hieß
Adler und ist 84 nach Israel ausgewandert.
Betreust du auch den Friedhof, Erich?
Ja, freilich. Er war ja von der DJ und andern Radaubrüdern in der Nazizeit
beschmutzt worden, Grabsteine sin umgeworfen worden.
Stimmts, daß dann nach dem Krieg die RJS-Seife feierlich dort begrabn
worden war?
Ja,
das stimmt. Es waren ja schlimme Zeiten, und wir haben viele Menschen verloren,
auch ich hab eine ganze Reihe von
Verwandten verloren.
Erich wandte sich ab. Er wollte anscheind
nicht darüber reden:
Ich zeig dir jetzt etwas Erfreulcheres.
Ich bekomm ja aus Israel, um Mittel für die Friedhofsbesorgung und die
Instandhaltung der Synagpge zu haben, Weine auch Kognac, die verkaufe ich dann.
Er zeige auf einen Stapel Kisten. Hier, diesen Kognac schenk ich dir, direkt
aus der Synagoge. Ja, aus dem „Tschawalles“ , wir Sachsen haben ja viele
Ausdrücke von euch übernommen.
Ja,
überhaupt gab es ja eigentlich keine Spannungen zwischen Juden und Sachsen bis
ins unsinnige Jahr 33. Es gab eine Art mindertheitliche Solidarität.
Ausßerdem redenten die meisten Juden deutsch, gingen in
die deutschen Schulen und wurden Ärzte und Rechtsanwälte, gehörten also auch
zur gehobenen Schicht der Stadt.
Es
gab wenige Paiklesjuden. Ja.
Aber
weil es viele Schulfreundschaften gab, mehr als mit den Rumänen, und nachher
dann wie im Fall von Dr. Capesius, der ja
vor dem Krieg auch Bayer-Vertreter gewesen war, ergab sich die absurde
Situation, daß Capesius auf der Rampe bei der Selektion, als die
„Ungarntransporte“ auch aus Siebenbürgen nach Auschwitz rollten, Bekannte, ja
Freunde zu selekttieren hatte!
Ich habe ihn in Göppingen besucht, er hat
mir das erzählt.
Du hast
ihn besucht?
Ja. Und auch aufgenommen. Und er sagte,
als die Baruchs, Mendels, Schlingers und Böms „dort“ ankamen, da habe er sie ja
gleich erkannt, durfte es aber nicht zeigen....
C: (Sucht in einer Kladde und in einem
Auschwitz-Buch )... Ella Böhm, das war die letzte Eintragung von
Frauentransporten. Dr. Ella Böhm: A 25382 und A 25 383 für die Tochter...
DS: Und der Mann
war nicht dabei?
C: Der Mann ist
zuhause gestorben und nicht während des Prozesses, wie sie gesagt hat...
Ja, da kam sie in
die Apotheke (in Auschwitz) und hat geschrien: Mikor a Doktorur látam, tudok
hodj elni fogog.[1]
Und hat einen Schrei getan. Und zu ihre Tochter hat sie gesagt: Hat näm
üschmers äs a Doktorur, a Segesvári Doktorur.[2]
Und ich hab ihrem
Bruder, dem Rechtsanwalt Dr. Mendel geschrieben: Schwester und Tochter sind bei
mir. Ich werde für sie sorgen, sorgen Sie für meine Familie.[3]
FC: Und Frau
Zilinski hat mir ein Telegramm gezeigt. Und in dem Telegramm war der Vorschlag
zum Austausch der Familien.
C: Aber Schatzele,
da ward ihr ja schon unter den Russen.
... Nun, unten in
Segesvár ist sie ( die Tochter von Frau Dr. Böhm) auf meinem Knie gesessen und
der Mendel ist neben mir gesessen, wir haben bei der Ruth Fabritius verkehrt
zusammen... und diese Tochter ist bei mir auf dem Knie gesessen, und das Foto
haben sie dann (zum Prozeß) mitgebracht. Eben dadurch wollten sie nun
untermauern, daß ich sie gekannt hab. Natürlich hab ich sie gekannt. Aber sie
haben ja drei Wochen gebraucht, bis sie zu mir in die Apotheke gekommen sind:
wenn sie mich auf der Rampe gesehen hätten, denn sie hat dann gesagt: es waren
drei: Mengele , Klein und Capesius, er hat nichts gemacht, er ist nur dort
gestanden, hat sie dann gesagt, (wäre sie doch sofort gekommen). Der rumänische Staat hat sie herausgelassen
unter der Bedingung, daß sie belasten.
(...)
Genauso wie die
Böhm gesagt hat, ich wär auf einem Rad im Lager ringsrum gefahren und hätte sie
zur Strafe im Kreis laufen lassen... ich wär mit dem Rad hinter ihnen gefahren
und hätte mit der Peitsche auf sie eingeschlagen. Es hat das gegeben. Aber das
war dann dort der einfache SS-Mann, der sie gestraft hat, weil sie irgend etwas
gemacht haben, vielleicht auch weil sie das Essen von 80 Leuten gestohlen haben
oder sonst diese Sachen. Das ist schon vorgekommen, daß man so bestraft wurde.
Aber da fährt doch nicht ein Sturmbannführer (Lachen) mit dem Bizzikel herum.
Das hats dort doch nicht gegeben. Es war ja kein Zirkus...
DS: Ein Prozeß, das
ist ja ganz gut, aber die Dinge, die da geschehen sind, die gehen doch über
einen Prozeß und über die Kompetenz eines Gerichts weit, sehr, sehr weit
hinaus. Das alles ist für mich so unvorstellbar, das kann man doch nicht
einfach mit irgendwelchen Gesetzen...[4]
C: Wie ich am 12.
Februar 1944 hinkam, da war für sie der Krieg schon verloren, für mich auch.
Der Sikorski[5] hat gesagt, Chef habe gesagt, schau: heute
seit ihr hier, morgen vielleicht wir. Krieg ist nicht mehr zu gewinnen. Chef
hat gesagt... Ja, das bin ich.
DS: Mußte man keine
Angst haben, dort so etwas zu äußern?
C: Ich ihm
gegenüber nicht.
DS: Er war
Apotheker, Häftlingsapoheker?
C: Ja. Und sein
Vater war noch Apotheker beim Zaren gewesen.
Am 12. Februar kam ich also dorthin. Und es
stand schon in den Listen, wo ich
nachgezogen werden sollte von Berlin: Soll für den erkrankten Apotheker
Krämer als Ersatz eingesetzt , als
Vertretung eingesetzt werden. Der in Berlin hat gesagt, sie kommen in ein
SS-Lazarett, sie müssen aber auch die Häftlinge, die dort in Lager haben,
mitbetreuen. Mit...
FC: Mit
Medikamenten versorgen...
C: Und bin dann
hingefahren. Und am 12. bin ich dort angekommen. Am 12. hat der Sturmbannführer
mir die Apotheke gezeigt, übergeben, mit mir herumgegangen und hat nichts über
die Krankheit gesagt, ich hab auch nicht viel gefragt, ich dachte nur, es geht
ihm besser scheinbar. Dann ist er wieder zurück zur Abteilung. Im selben Haus
im ersten Stock. Dort war so eine Sanitätsabteilung für die erkrankte SS. Es
gab nicht viele Erkrankungen bei der SS, denn die waren ja alle gut genährt und
hatten ja ihre Familien dabei, die meisten.... Der Mann jedenfalls (Krämer) ist
damals wegen Defaitismus erschossen worden, weil er allen Ankommenden erzählt
hat, sie werden noch Auge machen, da ist Sodom und Gomorrha. Es gibt noch etwas
mit der Unterwelt, irgend so ein Zitat, das auch vorkommt, das man so sagt,
wenn es einem mies geht, am miesesten geht...
DS: Die Apokalypse?
C: Nein, nicht
das...
DS: Das Inferno?
C: Ja, das Inferno
in der Unterwelt sei nichts dagegen, so in der Art. Er hat aber eine kleine
SS-Nummer gehabt, aus dem ersten Jahr...
DS: Ich weiß nicht,
wie ich gehandelt hätte, wäre ich in diese Maschine hineingekommen...
FC: Ich glaube, daß
unter diesen Bedingungen eben doch andere Regeln gelten, andere Maßstäbe
angelegt werden müssen...[6]
DS: Die Maßstäbe
schon, aber man kam ja mit seinem normalen Gewissen da rein...
FC: Ja.
DS: Es ist
unvorstellbar...
C: Es ist ja von
den ersten Tagen immer wieder so: "sprechen", das sagt dir der
nächste Bekannte, wenn er Sturmbannführer oder Obersturmbannführer ist, nicht
über diese Sache sprechen...! ([7])
Dem entfliehen? Da hätte man Sie doch erwischt! Sie wären doch am nächsten
Pfahl aufgehängt worden.
DS: Mir wären auch
Selbstmordgedanken gekommen, ich weiß nicht.
(...)
C: Es konnte sich
doch der einzelne nicht auflehnen ... und
wir konnten unser Vaterland nur retten, wenn die Russen nicht herüberkommen
... aber wir hätten das verhindern können, wenn man nicht alles verraten
hätte...
DS: Also daß die
Russen kommen?
C: Ja, sicher ...
wir wußten, wie es uns geschieht, wenn Stalin kommt. Und das mußten wir
bekämpfen. Dagegen mußte man dann eben so manches einstecken.[8]
Fehlt
298-305
Ich erinnere mich noch
gut: Ich hatte die Maschine auf den runden furnierten Tisch in Mutters
Wohnzimmer gelegt, auf das von 0ma gehäkelte Tischtuch, das wie ein feines
Mantra aussieht... Und ich hatte angekündigt, den „Vic“, den Auschwitzapotheker
Capesius in Göppingen besuchen zu wollen!
Mutter aber fragte mit
zornigem Ton in der Stimme:
Ich möchte wissen, warum
du dort wühlst?l Was dich so aufregt und so aufregt und was praktisch dabei
herausschaut..
Und Friederike fiel ihr ins Wort:
Das sind doch Sachen, die
man jetzt einfach begraben muß...
Und wieder Mutter: man
muß doch dort jetzt einmal Schluß machen.
Irgendwie.
Friederike: Das ist auch meine Ansicht!
Schluß machen? Ich werde
dir erklären, warum man nicht Schluß machen kann...
Und Friederkes Stimme: Es
war nicht so. Wir konnten uns nicht befreien, wie ihr das heute könnt. Wir sind aus der anderen Zeit, sagt sie, und
ihr zartes, fast durchsichtiges Gesicht wird bitter.
Wir haben uns nicht
ausreden können, aussprechen können, wie es heute an der Tagesordnung ist. Aber wir mußten ja auch mit unseren Leben
fertig werden und wie, wie hätten wir das schaffen können? Weißt du das? Fertig werden mußten wir mit unserem Leben,
so wie es eben war.
Mutter ist ernst und
redet in jenem vorwurfsvollen Ton, der mich sonst immer aufgebracht hat, jetzt aber bringt er mich nicht auf, denn ich
weiß ja, wie schlecht es Friederike geht, man sieht es ihr an, sie ist schwer
krank:
Ja Friederike hat den
Mann im Krieg verloren, sagt sei, ein Kind verloren, sie mußte doch so manches
verdrängen, wie hätte sie sonst leben sollen.
Sicher und ich mußte
sehen, daß ich aus dem, was noch ist, was Schönes mache, und nicht im Garstigen
wühle. Das will ich gar nicht, das mach ich bewust; ich will es nicht, weil ich
es einfach nicht verkraften kann. Weder
seelisch noch sonst. Und ich möchte es
nicht! sagt sie sehr heftig: Schluß, na, Adje.
Ich schweige
bedrückt. Ich weiß, sie wird nach Vater
die nächste Tote unserer Familie sein. Ich weiß Friederike ist schwer krank.
Und sie sagt, sie habe
nun gar keine Lust mehr, irgendetwas zu tun: Früher habe sie morgens schon das
Radio angedreht, Musik gehört jetzt tue sie das nicht mehr. Ja auch lesen könne
sie nicht. Und auch das Fernsehen langweile
sie.
Früher, wenn wir irgendwo
eingeladen waren, da konnte ich von Gesprächen nicht genug bekommen,
jetzt ermüdet mich alles. Irgendetwas ist mit mir geschehen, hat mich völlig
verändert... sagt sie. Und faßt sieh verzweifelt an den Kopf: Ich weiß nicht, was es ist, vielleicht die
vielen Medikamente, die Bestrahlungen, das macht die Hirnzellen, das macht die
Nerven kaputt, es frißt dich auf.
Davor aber floh sie, weil
sie genau wußte, daß sie damit allein war und weil sie keine Reserven mehr
hatte, so daß sich ihr Glaube, daß ihre Angst sich gegenseitig aufhoben, Sie
zog den Mantel an und ging. Und wir fuhlten uns elend und hilflos. Auch als ich
versuchte über ihre Erinnerungen zu sprechen, hörte sie nicht zu, als sei das
nicht mehr ihr Leben.
Aber die Einsamkeit, die
Angst, allein zu bleiben, die hattest du doch schon als Kind? sagte ich.
Ja, ich wollte nie weg
von zu Hause, hatte immer schreckliches Heimweh.
Da hat dir doch die
Großmutter einen Brief geschrieben, als du in einer Kochschule auswärts warst?
Ja, ja, das hat sie. Aber
jetzt habe ich Angst, daß mich meine Kräfte verlassen, daß ich keine Freude
mehr am Leben habe, daß alles vorbei ist…
Friederike
hatte Angst vor sich selbst, und hatte kurz vor ihrer letzten schweren Zeit
schlimme Depressionen gehabt; Großvater hatte sie kurz vor seinem Tode auch, diese Depressionen. Die geistige Kraft
nimmt ab, der Körper mit seinen Schmerzen überschwemmt alles, da ist jeder
völlig sich selbst ausgeliefert. Die Initiative fehlt.
Wir
wollten damals mit ihr nach Staufen fahren, sie aber kam nicht mit. Auch mit
Vater war jene Fahrt auf der Kaiserstraße unsere letzte Fahrt gewesen.
Es
ist reizend von dir, mich einzuladen, hatte sie gesagt, und sie lobte gern, als
wollte sie immer nur noch Gutes tun, bis zum Schluß.
Sie hatte Angst vor den Leuten. Als wir sie
fragten, wohin sie denn fahren wolle, da sagte sie: Heilbronn. Dort wohnten viele
Freunde aus der alten Heimatstadt; sie wäre gerne hingefahren; dann aber hatte
sie abgesagt, abtelefoniert mit müder Stimme. Sie saß im Sessel vor dem
Fernseher und ihr liebes zartes Gesicht schien durchscheinend und aus Wachs zu
sein. Sie sah schon wie tot aus und hatte tiefliegende schwarzumränderte Augen.
Mein ganzes Stützgerüst, der Knochenbau
schmerzt, sagte sie, die Füße sind wie Blei, die Füße `glangeln´, ich habe
keine Kraft mehr. Als wir dann doch Richtung Staufen losfahren wollten, hob sie fast ins Auto, trug sie mehr,
als daß ich sie stützte. Sie atmete schwer. Ist dir nicht vielleicht der teure
Pelzmantel zu schwer? Ach, es war ein Sonderangebot, sagte sie, ich leiste mir
noch etwas, so lang ich noch kann. Wer weiß wie lange. Das war vor fast drei
Jahren; seit sieben Jahren stirbt sie. Die Operation in Tübingen war vor sieben
Jahren gewesen. Die Eltern waren damals erst ein Jahr in Deutschland. Sie nahm
Abschied von zu Hause, das war vor weiteren zehn Jahren gewesen. Seither eine
merkwürdige Spätreife Der Lehrmeister Tod begleitete sie. Und sie klagte über
dieses dumpfe Gefühl des ´Ausgeronnenseins`.
Ich
denke an Ilse B.. Sie hatte Unterleibskrebs mit furchtbaren Schmerzen. Das war noch zu Hause in Schäßburg gewesen.
Am schrecklichsten für sie war, daß sie sich dauernd bedienen lassen mußte, von
ihrem Mann von ihren Kindern. Und jemand mußte sie bewachen, Tag –nd Nacht,
denn in jedem unbewachten Augenblick versuchte sie sich das Leben zu nehmen.
Schlißelich ab es solch einen unbewachten Augenblick, sie lief zum Bahnhof und
stürzte sich unter einen Zug.
Und
das steht nun alles da wie ein Blick, der nicht vergehen will, wenn ich Mutters oder Friederikes wirkliche
Stimmen höre: Wir sind ja aus der Zeit,
Michael, wir haben uns nicht ausreden können… wie das heute an der Tagesordnung
ist, sagte die Kranke. Ist Krebs eine Seelenkrankheit? In mich ist der Ton dieser
Stimme unvergesslich tief eingedrungen: Ich fühle, wie es in mir nagt, sagte
sie, wie meine Gefühle so ganz durcheinander kommen. Ich kann nicht mehr
denken, ich hab so keine Klarheit mehr. Und ich habe Angst. – Sie hustete fast
ununterbrochen, `verdämmelte sich`, und ihr feines Gesicht war aufgeschwemmt
und hatte große dunkle Flecken. Mutter ließ sie nicht einmal mehr abwaschen,
kaum einen Handgriff tun! Es war kurz vor Weihnachten und andauernd klingelte
das Telefon. Es war eine gereizte vorweihnachtliche Stimmung im Haus,
Vorweihnachts-Vorbereitungsstimmung...
Nervosität. Alle diese Einladungen kosteten Zeit, Kraft, dies in der Küche
stehen, dann der Steß des Zusammenseins. So ging das Leben, so gingen die Feste
dahin.
Weihnachten…
und am neunten Januar starb sie. In ihrer letzten Nacht hatte sie noch
friedlich geschlafen, denn alle ihre Kinder und Enkelkinder hatten diese letzte
Nacht in ihrer Wohnung verbracht.
Wir
waren inzwischen wieder zurück nach Aliano gefahren, und Mutter rief an, sagte
tonlos: Ja, sie ist tot, und man kann fast von Glück sagen, daß sie so gnädig
sterben durfte, fast ohne Schmerzen. Sie liegt da, ganz zart, und so `wenig´.
Vorgestern, da hatte sie ganz plötzlich nach meiner Hand gegriffen, nach ihr
verlangt. Und ich hatte zu ihr gesagt: Ich geb sie dir, ich hab sie dir doch
immer gegeben; sie aber sagte ganz leise: Ich fühle nichts mehr, ich fühle auch
deine Hände nicht mehr. Und da war ich sehr erschrocken, obwohl wir ja auf
alles gefaßt sein mußten. Ihr ganzer Körper war gelähmt, die Beine, die Arme
fühllos. Dann ging es ihr wieder besser, sie wollte sogar aufstehn, gestern
gegen abend aber wurde ihr Zustand immer schlechter und schlechter, sie konnte
kaum noch sprechen, die Schmerzen nahmen zu, Hermann kam und gab ihr eine
Spritze, es war die letzte, und er sagte draußen im Nebenzimmer zu mir: Es wird
zu Ende gehen, die Metastasen haben sich im ganzen Körper ausgebreitet, und
auch das Rückenmark erfaßt, daher die Lähmung, das Gehirn ist zertsört, das
Sprachzentrum auch. Aber sie ist dann immer stiller geworden und ist so
hinübergeschlafen, ist nicht mehr aufgewacht. Und Ulrike, die merkwürdigerweise
seit drei Tagen auch hier war, die Tochter unseres alten Hausarztes, saß an Friederikes Bett und erlebte dieses
Sterben wie eine Offenbarung. Die Söhne mit den Enkelkindern waren da, Detlef
und Gerhard mit den Frauen. Es schien Friederike besser zu gehen, Detlef fuhr
mit seiner Familie dann wieder nach Stuttgart. Und Gerhard war nur einmal kurz
hinausgegangen, und ausgrechnet in diesen paar Minuten starb sie.
Wir
können uns nicht vorstellen, was der Kranke empfindet, wenn der Schmerz, der
Tod durch den ganzen Körper zieht, bis hinab zu den Beinen, in den Knochen
sitzt, der Haut, vor allem auch im Rückenmark. Nein, mit deinem gesunden,
schmerzlosen Körper, den einigermaßen von Todesangst freien Gedanken, die sich
nur wie aus der Ferne über die Angst vor dem Altern, dem Blick auf den
Kalender, in den Spiegel, ins Vergleichen mit dem, was du bis zu diesem Jahr
eigentlich alles hättest tun müssen, damit der Tod einmal sinnvoll erscheinen
kann – einmal, mit diesem schmerzlosen Körper, hast du kein Recht zu sagen, du
hättest eine Art Nähe zu Friederike gehabt, könntest sie verstehen, auch wenn
das letzte, was du von ihr in der Hand hältst ein Geschenk von der geliebten
Großmutter, der Fernengelgrieß, ist, eine uralte sächsische Decke mit Stockflecken,
die Friederike zu ihrer Hochzeit, erhalten hatte, und die sie mir zu
Weihnachten, ihr letztes Weihnachten auf deser Erde, mit einem Weihnachtsgruß
„aus Dank für dein liebes Verstehen,“ geschenkt hatte.
Und
in meinen Erinnerungen ist sie überall mit dabei, als wäre sie meine zweite
Mutter; sie taucht vor mir auf, sie steht dort oben auf dem ´Gang´des
Baiergaßhauses, und die klappernden Blechkannen und Reindl in der Küche gehören
zu ihrer Zärtlichkeit für die Morgenfrühe. Sie geht einkaufen auf den Markt,
geht in den Park am Ufer des Flusses, alles heimlich, alles mit schlechtem
Gewissen, als sei es nicht ihr Recht, nach Liebe zu suchen. Ja, mein liebes
Kind, das schon, doch nicht auf der Straße, so etwas tut man doch nicht, man
muß anständig sein, uständich senj. Eifersüchtig beobachtet er sie, der
K.-Großvater, wie ein Hahn im Korb, sagte Mama! Kasse und Gefühl! Dabei war sie
ja nach dem Krieg, als ihr Mann auf dem Heimweg von Rußland in Frankfurt an der
Oder an Wassersucht starb, erst 39 Jahre alt. Allein, eine Witwe mit zwei
kleinen Kindern. Die Ami hörte man oft sagen: Wä wer ech frih, wonn et fir det
Friderike noch e Gläck gew. Wie wär ich froh, wenns für Friederike noch ein
Glück gäbe. Aber nein, sie blieb, sie mußte allein bleiben. Ein
„Andersnationaler“ kam ja nicht in Frage, und die sächsischen Männer ihrer Generation
… die gab es nicht mehr.
Als
Mutter diese schwere Geburt hatte, Hannes auf die Welt kam, das war ein Jahr
nach der Hochzeit Friederikes mit Georg, 1938, da nahm
Friederike mich bei sich auf, da wohnte ich als Vierjähriger bei ihr,
sie hatte ja noch keine Kinder, und sie widmete sich liebevoll dem kleinen
Michael, kaufte mir einen pepita Anzug mit einem riesigen roten Schlips und spazierte mit mir durch die
Baiergasse, nach links und rechts grüßnd, Grüße empfangend. Apropos: Na, wann
Frau Z., gibts denn ein eigenes? Dann
hatte sie es das Eigene, jahrzehntelang
allein mit den zwei Söhnen, sich
an sie klammernd, sich nicht zu helfen gewuß, vor allem nach der Übersiedlung
in die menschlichen Kälte Deutschlands.
Und
Vater? Er ist nicht mehr da, er ist überhaupt nicht mehr fassbar, wie soll ich
dann mit diesen Sätzen an jene Zone reichen, die wir uns ausdenken, wo er sein
könnte? Schluß, keine Literatur mehr, ist sie denn nicht ein Verrat, sage ich
mir – und schreibe trotzdem weiter!
Salmen
sagte, du nimmst ihr Leben auseinander, du nimmst ihren Tod auseinander! Tust
du das, um Sohn zu werden, der du nie warst? Oder um einen Vater zu haben, ja…
den es gar nicht mehr gibt?!
Ich
weiß es nicht. Aber sicher hat er recht, wenn er sagt, daß wir an die Abgründe,
die Unvorstellbarkeiten der Taten unserer Väter, nur im Todeserlebnis
heranreichen könnten, und im tiefsten Schmerzgefühl. Bin ich jetzt so weit?
In
Detlefs neuer Wohnung sprach ich es dann aus: Es sei mir eigentlich nie so klar
bewußt geworden, als eben jetzt bem Tod der Eltern, was uns fehlt …
Ja,
sagte Brigitte, Detlefs Frau, sie haben ja auch ihren unerträglichen Schmerz
gehabt, und den mußten sie für sich behalten; wir aber haben so getan, als
seien sie keine Menschen, als wären wir jetzt nicht genau in der gleichen Lage,
wie sie es einmal gewesen waren!
Stimmt
nicht, protestierte der dicke Detlef, es läßt sich nicht vergleichen!
Friederike
hatte einmal gesagt: Lies in den Buddenbrooks nach, dann weißt du die Gründe
unserer Angst und unseres so unnatürlichen Verhaltens, Angst vor dem
Verfall! wir sind alle „angeknackst“,
haben jene „feuchte Stelle“, von der dort gesprochen, nein aus der gehandelt
wird. Oder den Fontane, sieh mal in den Schach von Wutenow rein, da geht auch
die Pflicht über alles, es ist der einzige starke innere Halt, wenn alles
andere nicht mehr packt!! Der Schach, als er die häßliche L. verführt hat, und
er den Befehl vom König erhält, sie zu heiraten, aus Anstand und Pflicht, da
tut ers, gehorcht; und dann erschießt er sich, was hätte er auch anderes tun
können? Du weißt doch, wie sich auch Wilhelm, er war Offizier, der Bruder der
armen Mitzmother, im Hausenblaszhaus erschossen hat, weil er die Kaution für
eine Heirat nicht bezahlen konnte! Und er liebte unsere Sopranistin, die
Blaschek doch über alles! Der arme
Junge. Aber damals mußte er es tun; das einzige, was ein Mann hat, ist doch sein unantastbares Ehrgefühl. Da darf er
nicht schwach werden! Das war auch bei uns so, nicht so streng, aber es war so!
Der arme weiche Tallo hat darunter sehr gelitten, auch bei der SS; und hat sich
aus verdammter Pflicht seinem Volk gegenüber freiwillig gemeldet. Das wußte er
genau. Lies nur mal seine Briefe an die Lehrerin Hermie, die er gern gehabt
hat. Lies mal nach, was für schlimme Konflikte er in sich auszutragen hatte.
Was
hatte man da alles in uns hineingesetzt, auch in mich! Körperertüchtigung!
Pficht, gehorchen. Keine Widerrede! Ich werd aus dir noch einen anständigen
Menschen machen. Bück dich, bücken, hab ich gesagt, Hosen runter, sofort, na
wirds bald! Nein, nein, bitte, bitte nicht! So, jetzt bück dich, so, höher …
und jetzt gehst du und holst den Stock, wirds bald. So, jetzt… bück dich,
höher… höher--- Witsch. Au, au au…
Und
wahrscheinlich stand dem Schläger dabei der Schwanz, erregt war er, haute, und
atmete schwer, wie beim Ficken.
So
wars auch, wenn sie im KZ eine Frau durchpeitschten, festgeschnall auf dem Bock
mit nacktem Gesäß, dem schönen großen Mondsgewächs… und so mancher holte sich dabei heimlich einen
runter, während sie schrie, weinte, wimmerte…
Und
sogar Misch erzählte von der Prügelstrafe auf manchen Schiffen, rauhe
Matrosensitten?
Ist
es nicht so, höre ich plötzlich Marthas Stimme: daß auch dich ein auf dem
Prügelbock hochragender üppiger Hintern, weiß wie ein Gesicht ohne Augen,
reizt, der Mund zwischen den Beinen schwarzgekräuselt und der Spalt wie ein Wunde
rötlich klaffend... Wimmern, und Schreien, wenn der Stock niedersaust, Weinen der Gestraften erregt mich, das geb ich zu
Und am liebsten würde ich auch deinen nackten Hintern so sehen und verhauen,
ja.…
Sie lachte verlegen, sah mich aus ihren
Augenwinkeln so an, daß ich rot wurde, und
wie ertappt zu Boden sah; dann aber
ließ sie überraschend den Rock fallen, stand splitternackt und gebückt vor mir, dem Schamlosen da, daß der nicht wußte,
wie ihm geschah und er aus allen Himmeln fiel. Ein Blitz. Martha, ein schöner
Fleischbogen, laut lachend; verstummte
dann, selbst überrascht, sie hatte ja "zurückgesehen", und erkannt,
wie ihre zwei ´Gesichter´ geisterhaft nebeneinander standen, zwei Münder, rot und schwarz, halb geöffnet,
die Beine wie beim Bock-Springen in der
Turnhalle wartend gespreizt, und sie atmete nun plötzlich selbst schneller; also auch sie... ? dachte
ich, da ich ja nicht wußte, wie ich diese plötzlich so körperlich nahe Erinnerung deuten sollte, denn so wie ich sie kannte,
hätte sie sich wehren, hätte sie arg böse werden müssen bei meinen Gewaltphantasien.
Als dieser Kerl, der ich selbst bin, den
zweiten Mund ihrer V, die wie eine reife Frucht unter dem weißen Mond
hing, küssen wollte, stand sie schon
wieder aufrecht da, und hatte den Rock hochgezogen, als wollte sie den
japsenden Mann narren und strafen: "Nun erzähl schon, Henkersknecht",
spottete sie: Ich bin gar nicht fassbar. Die Wut hat bei uns ganz andere Gründe: Schönheit
ist die einzige Waffe, und der Arsch gehört dazu! Nun komm schon, mach den Spruch deiner Stadt wahr: Kannst mich
mal! Und Leck tief vor deinem Untergang! Rache
ist süß! Ganz anders als bei der Báthory?
Ach, ich höre sie noch immer schreien, die
armen Schweine in der Nachbarschaft, wenn
abgestochen wurden, ihr Blut langsam rausfloß in eine Schüssel, bos si
tot waren… Vögel und Lämmer, wie Hühner
und Tauben, brachen ihnen das Genick wie Hasen ... Als Kind hatte ich
Angstträume, ich wunderte mich, machte große Kinderaugen, wenn ich den Leuten
zusah, saß oben auf einem wackligen Gang, von unten aus dem alten mit
Katzenköpfen gepflasterten Hof stank das Klo herauf, das Eisen des Ganges war
von der Sonne warm, das Holz auch, und roch so gut wie das eingelassene Holz der Brücke über den
Bach, oder die Holzscheite, und die Balken auf dem Dachboden, wo die Wäsche
aufgespannt wurde, Taubendreck weißgrau
auf dem dimpigen Balken, da konnte man kaum atmen, eine Biene summte, zwei ...
unten aber am Schopfen und bei den Hühnerställen stachen sie mit einem langen
Messer in den Hals des Huhnes, durchschnitten ihn gedankenlos, dieses
Wunderwerk, es war ja nur ein Huhn!
Und das Huhn gackerte wild, das Blut spritzte, das Huhn lief ohne Kopf im Hof
herum, bis es ohne Kopf eingefangen wurde,
Blut rann in eine Schüssel, und ich
war erstaunt, wie dumm die Worte
sein konnten, "Huhn", "Blut", "Laufen",
"Holz", und ich weinte und
lief in die Küche zu meiner Mutter, verkroch mich mit dem Kopf in ihrem Schoß.
Angst vor Schmerz und Tod.
Und wenn ich hier an der Lingnerischen Mühle
vorbeigehe, vis á vis das Wohnhaus, überlagern sich die Erinnerungen, im Garten
mit Walle, dem Handballspieler, der auch Janger zu mir sagte, und dann die
Erinnerung an 90, als ich mit Jann gleich nach der Revolution hier gewesen war,
in diesem Haus das „Kinderheim“, die
armen Waisenkinder, Dr. Pátru, ein Schulfreund von Henne, Hansem, Ulrikes
Bruder, Hansonkels Sohn, auch er schon tot, die Leber ja, soff sich zu Tode,
auch er; und Dr. Patru führte uns durch Räume, ein Gitterbettchen neben dem
anderen, Kinder aus furchtbar armen, zerstörten, kinderreichen Familien, die
Mutter arbeitslos, der Vater oft unauffindbar. Ach, unsere „behütete“ Kindheit
hier. Ich kann die Blicke dieser armen Kinder nicht vergessen. Sie liegen wie
tot da, und nur wnen man sie streichelt wachen sie aus ihrem Dämmerzustand auf.
Und eine Ärztin sagte;: Ja, das ist so, weil diese Kinder seit ihrer Geburt
unterernährt sind, niemand hat sich mit
ihnen beschäftigt. Biafra Europas? Armes Scheszbrich. Jann streckte die Hand
nach einem dunkelhaarigen Jungen aus;
der faßte ihre Hand, wollte sie nicht mehr loslassen. Warum adoptieren sie den
Jungen nicht? Er ist gesund, ich zeige ihnen nachher di „fisá“, seine
persönliche Kartei. Nehmen Sie ihn doch mit; ich melde es erst, wenn sie längst
über alle Berge sind! Wir sahen uns mit Jannan; die Veruschung war groß, doch
dann verzichteten wir; Kindesentführung?
Und wie gehen wir
dann in Italien, in Deutschland damit um? Ich konnte aber den gedanken damals
nicht loswerden, es war für mich wie eine Traumwirklichkeit, ein Kind aus
meiner Heimatstadt, ein Kind von hier unser Kind, eine seltsame bindende Rückkehr? Eher ein Albtraum dieser Zeitdistanzen- jtzt
und damals als ich hier ein Kind war, genau in diesem Hof mit Walle Ball
gespielt hatte. Der geheimnisvolle dunkle Garten, der Schopfen, gabs auch
Ställe, offne Fenster im Sommer, Obstbäume, die blühten, gepflegte Kieswege.
Und hier durch die Kokelgasse zur Lederfabrik, wo Miker wohnte, die großen
Höfe, die Lohe, wo wir hinabrutschten
wie auf Eis, am Ufer rauchten mit Kukurutzhaarzigaretten und Prügel von Mikrs
Vater bezogen. Komisch, viele Träume von einer großen Veranda, Tagen und
Wochen, die sich zusammendrängten, ganze Geschichten, die ich aber nicht mehr
erinnern konnte. Oder hatte ich das irgendwann mal aufgeschrieben?
Damals 90 mit Jann
waren wir über Schaas und Trappold auch
nach Denndorf gefahren, wo ich vor vielen Jahren Lehrer gewesen war; ich wollte
mich nicht zu erkjennen geben; wir gingen zuerst zur Kirche und zum Kirchhof,
viele Namen , di ich kannte. Der schöne große Pfarrhof, Gras wucherte im Hof,
er war verlassen. Der Pfarrer der Nachbargeminde versorgte die wenigen Sachsen.
Seh ich mich da kommen, oder wer ists, auf der Hauptstraße sah mich eine ältere
Frau mit einem Kind an der Hand durchdringend an, dann fiel sie mir mit einem
Schrei um den Hals, Herr Liehrer! Eine ehemalige Schülerin, die damals 10
gewesen war, hier, dies ist meine Enkelin. Und ich mußte natürlich mitkommen,
bekam zu essen und Tzuika zu trinken. Wie einLauffeuer verbreitet sich die
Nachricht, der Herr Liherer äs kun! Sie begrüßten mich mit Trännen in den
Augen. Sie sind noch zur rechten Zeit gekommen, Herr Lehrer, in einem Jahr hätten
Sie hier niemanden mehr vorgefunden. Nur sechs Familien wollen noch bleiben,
alle, alle auswandern. Wir haben hier keine Zukunft mehr, die Kinder wollen
nicht bleiben! Viele sind schon in Deutschland. Ja, vor zehn oder fünfzehn
Jahren! Aber jetzt ist es zu spät! Wir sind kaputt, das viele Arbeiten nach der
colectivizare, und der Nervenkrieg jahrzehntelang! Aber es wird dort in
Deutschland eine große Umstellung brauchen, sagen sie,wir werden dort alle
seelischg zu Grunde gehen… von hier aus der alden Gemien, der alten Gemeinde in
die großen Städte des Westens…
Als wir abfahren, stehn sie da und winken,
weinen; so werden sie auch beim endgültigen Abschied und „für immer“ gehgen,
das Haus absperren, wozu noch? Noch ein letzter Blick ins Zimmer, auf die
Scheune, den Hof, wo sie ihr Leben zurücklassen. Fort, nahc Deutschland, wo sie
fremd sind! War es meinem Großvater nicht ähnloich ergangen, als er „für immer“
sein Baiergaßhaus verließ! Bei mir war es anders gewesen, ich fühlte mich frei,
es war wie ein Rausch, kein Blick zurück, der Blick zurück kam dann
jahrzehntelang nach, und hat auch jetzt kein Ende gefunden!
Gräßlicher Traum:
begleitet von meiner Mutter sollte ich "eingeäschert" werden, da
meine Stunde gekommen war. alles schon vorbereitet. Wir mußten aber warten,
zuerst sollte ein anderer eingeäschert werden. Der lag langausgestreckt auf
einer Art Operationstisch; eine lange spitze Stange drang zuerst in die Nieren
ein, dann eine andere von der andern Seite in den Körper, wohin sie eindrang,
war nicht ersichtlich. Der Arme quälte sich lang. Ich sagte darauf, daß ich das
nicht mitmachen, und lieber normal sterben wolle, das wäre abzuwarten. Meine
Mutter war entrüstet. "Und die siebentausend Mark, die Du bezahlt
hast?" sagte sie und begann mir all die schönen Sachen zu zeigen, den
Eichensarg, Leintücher, vor allem aber den rötlichen Grabstein mit meinem
Namen, ich las ihn genau, es war ein gräßlicher, geschmackloser Stein mit einem
dicken Wulst als Querleiste. Darunter ein langes Zitat von irgendeinem Dr. X.
Aber ein Doktor mußte es sein, anstatt vor meiner.
Ich stand nachher
mit Jann unten auf dem Burgplatz. Sie wollte ins Museum, sie wollte auf den
Turm; ich aber telefonierte mit der Wohnung des ehemaligen Securitatechefs, dem
Geheimdienstobersten. Und fand seine Tochter zu Hause, die sagte: Ich war
dreimal verheiratet, ich kann noch ein viertes Mal heiraten. Bist du mit dem
Auto da? In zehn Minuten öffne ich dir
die Tür. Ich ging hinaus, suchte Jann, sie war auf dem Turm , kam die Treppe
herab, und ich erinnerte mich an einen Traum, wie wir gemeinsam durch das
Museum gefallen waren, tiefer immer tiefer.
Rundgang durch die verwinkelten Gassen; herausgebeugt aus ihrem Fenster, erzählt eine
Frau vom Tod ihres Neffen bei der
Verteidigung des Fernsehgebäudes in Bukarest. Der Vater stand jeden Tag dort
am Eingang, sagt sie, und wartete auf seinen Sohn. Der Junge war zu plötzlich
gestorben, sagt die Frau im Fenster. Und was nützt uns da Heldentum. Von
Märtyrern sprechen sie. Das hilft doch keinem. Aber dieser Tod, der bleibt, der
bleibt hier, sagt sie, und hat uns dazu gebracht, daß auch wir hier bleiben.
Dies ist ja jetzt mehr als vorher unser Haus. Die andern, das hat mir eine
Freundin erzählt, sind schon im Westen, anderswo und doch hiergeblieben. Sie
denken jeden Tag an das verlassene Zuhause, das sie nirgends mehr finden, in
keiner deutschen Stadt. Sie leben wie Gespenster.
Der Vater wartete, und konnte es
nicht fassen, nicht glauben, wartete jeden Tag auf den toten Jungen. Nur die Revolution hat für einen Augenblick
alles umgekehrt, so daß die Toten für diese Augenblicke, wo mit einem Schlag alles neu wurde, ihre Stimme
erhoben, die Leute immer weiter trieben, selbst bis in den Tod. Die Toten sind
der Umraum der Welt, alle Opfer, die je unschuldig fielen, sind es. Sie
wissen, was wir noch zu erfahren
haben. Und wir zollen ihnen Respekt. Aber es ist schon lang her: - Die Revolution als das Äußerste im plötzlich
offenen Augenblick, sein letzter Außenrand als unerwartetes neues Geschehen,
das den bisherigen gewohnten Ablauf des Alltags
durchbrach und alle von etwas erlöste, was ewig zu sein schien, Stoff
für viele Jahre, ja, Jahrzehnte, um zu lernen - seinen Augen nicht zu trauen.
Jann aber wollte ich noch die
"Schwimmschule" zeigen, sie steht neben dem
"Eisplatz". Auf Eis gegangen. Herr Fänk, Herr Fänk, nor noch iist ämeränk,
riefen wir auf dem Eisplatz, der Augenform hatte, Ellipse, Oval, und flohen
vor dem Wärter, entkamen aber nicht. Gleich daneben aber der Sommer. Die
"Schwimmschule," wo ja, so behauptete er, Hermann Oberth, beim Unterwasserschwimmen das
Raketenprinzip entdeckt hatte. Aber ich tastete danach. Da war kein Wasser im
Becken. Dort hatte ich mit dem Winter Rick gestanden, an der Treppe, die ins
trockene Wasser führt. Und er hatte mir erklärt, wie er "aufsteigt"
im Parteiapparat. Er war dann Primsecretar von Hermannstadt, der Printsisor
Nicu sein Nachfolger. Ceausescu.
soll Rick bei einer Blitzvisite angebrüllt haben, und Rick, der Schulfreund,
der Stärkste von allen, verprügelte mühelos jeden, hatte Machtinstinkt wie
keiner, saß jahrelang gelähmt im Rollstuhl. Der Unglückselige. Jetzt ist er
tot. Seine Mutter eine arme Tagelöhnersfrau, Ungarin, geschwängert vom Winter
Schorr, dem Fleischer der Stadt, ein Brutalinski. Rick, das uneheliche Kind
hatte von Kindheit an wohl eine Wut im Bauch gegen alle Reichen und sächsischen
Ausbeuter. Wurde Kommunist, schikanierte die Leute. Als ich Lehrer war, zitierte
er auch mich vom Dorf zum Kreisparteikomitee, mehrfach, um mich zu verhören, um
mein "revolutionäres Bewußtsein" anzuschärfen, das ich verloren habe.
Ich zitterte vor solchen Vorladungen ins gleiche Haus, in dem sich auch die
Secu befand. Eine Außenstelle mit Keller, wo geschrien wurde, war unser
Nachbarhaus. Da spielte der lange knochige Rick mit dem freundlich-sadistischen
Lachen die Hauptrolle. Er ließ mich, den Verräter nicht durch. Er hielt als
böser Geist in mir die Stadt besetzt. Und verhinderte, daß mein Bruder, der
"Ausbeutersohn" studieren konnte. Das hat meinen Bruder gezeichnet.
Aber das Infantile an ihm, diesem unglückseligen Rick oder auch beim
Tyrannensohn blieb die Hauptsache. Alles ein blutiges Kinderspiel. Als kleiner
Junge war er immer der Stärkste, schlug sich mit einem gewissen Konrad. Es gab
blutige Kämpfe. Ich stand neugierig dabei, schüchtern, völlig ohne Interesse an
solchen Dingen, es grauste mir nur, ich hatte Angst, vor dieser unheimlichen
Sphäre der Ungerechtigkeit; und nur die blauen Mitleidsäderchen jener, die
geschlagen wurden, schwächer waren, wie der kleine Otto, trieben mir die Tränen
in die Augen.
76 Als ich den Herrn Doktor sah, wußte ich, daß
ich leben werde. Die ganze Zeugenaussage der damals 68-jährigen Dr. Gisela Böhm
und ihrer Tochter: in Langbein a.a.O. S. 665-669. Capesius habe sich gewundert,
daß sie nicht zu ihrem Bruder nach Schäßburg gegangen sei, sagt Dr. Böhm:
" denn von dort wurden keine Judentransporte nach Auschwitz
geschickt" . Siebenbürgen war 1940 durch den "Wiener
Schiedsspruch" geteilt worden. Odorhei, wo Frau Dr. Böhm lebte, gehörte
zum nördlichen Teil, zu Ungarn, Schäßburg an der Grenze, noch zu Rumänien. Und
Rumänien hat keine Transporte in deutsche Lager geschickt. Wohl aber nach
Transnistrien.
78 Das war nach dem 23. August 1944, nach der
Befreiung Rumäniens durch die Sowjets, als die Juden, als Verfolgte wieder eine gewisse Macht auch in Schäßburg hatten.
Frau Dr. Capesius und ihre drei Kinder lebten in Schäßburg, nach dem Einmarsch
der Roten Armee, wie alle Deutschen gefährdet. Und da kam an den Dr. Mendel,
ein Brief aus Auschwitz. Frau Dr. Böhm sagte im Prozeß dazu: "Nach der
Befreiung habe ich erfahren, daß eine Frau Schuster im Jänner 1945 von ihrer
Mutter aus Wien einen Brief über das Rote Kreuz bekommen hat, in dem sie
aufgefordert wurde, meinen Bruder zu fragen, ob er nicht seine Schwester und
deren Anhang - also mich und meine Tochter - gegen Familienmitglieder von
Capesius und andern austauschen wolle. Schuster fragte damals meinen Bruder.
"Langbein a.a.O. S. 666.
79 Hier ein Zitat aus einem Brief des in
Kronstadt/ Siebenbürgen geborenen
Theologen Gerhard Möckel in die Zelle des siebenbürgischen
Auschwitzapothekers Dr. Capesius nach Frankfurt: "... "Die radikale
Schuld ist durch menschliches Rechnen und Selbstprüfen wohl nicht zu begreifen.
Die Übernahme einer Verantwortung dieses Umfangs und dieser apokalyptischen
Tiefe spottet allen menschlichen Kräften." Gerhard Möckel, Brief an Capesius
(1965). Daß durch diese Erfahrungen und
Erkenntnisse die kleine Gruppe der Rumäniendeutschen, die in dieses Verbrechen
und die nachfolgende Apokalypse mit hineingerissen wurde, nicht nur überfordert
war, sondern daß dadurch ihr gesamtes Schutzsystem der Verdrängungen
erschüttert worden wäre, ist klar. Dazu
aus den Radiosendungen andere Stimmen jener unglücklichen und schuldigen
siebenbürgischen Generation:" EZ:
Wir haben überhaupt viel verdrängen müssen. Das ist so. Wir sind aus der
Zeit... wir haben uns nicht ausreden können, wie es heute an der Tagesordnung
ist ... Aber wir müssen ja auch mit unserem Leben fertig werden, irgendwie. ES:
Ja, die Elfi hat ihren Mann verloren, Kind verloren, sie mußte doch manches
verdrängen, wie hätte sie sonst leben sollen. EZ: Sicher, und ich mußte sehen,
daß ich aus dem, was noch ist, das schönste mache. Und nicht immer im Garstigen
herumwühle. Das will ich gar nicht. Autor: ... Und man muß weiter kitten, um
seelisch zu überleben, vor allem, wenn man so Furchtbares gesehen und wohl auch
getan hat, wie Roland A. in Auschwitz.
Er baut sich Alibis auf: RA: Es war gräßlich genug, nicht wahr! Aber für mich
war Hitler so groß, daß ich ihm auch so ... so äh, fast verziehen habe angesichts
der Millionen Bombentoten... usw. Autor: Und er habe nur gedacht `inter arma
silent musae'; vor den Waffen schweigen die Musen. Klassisch gebildet ist er,
und auf gut deutsch diente ihm nun auch dies zur Verdrängung, zur Flucht. Er
las auf dem Wachturm Hölderlingedichte...RA: Nietzsches "Replik":
"Das Unvergängliche ist nur dein
Gleichnis,/ Gott der Verfängliche: Dichter Erschleichnis,/ Weltrad das rollende,/ streift Ziel auf
Ziel,/ Not nennts der Grollende,/ der Narr nennts Spiel... Doch ja. Ich hab
auch Posten geschoben und ständig den Rucksack voller Gedichte gehabt. Nicht
wahr. Ich hab ständig Wachvergehen begangen."Vgl. die Sendungen
"Vaterlandstage" (90 Minuten) beim Süddeutschen Rundfunk am 1. März
1980.
80 Jan Sikorski, Häftlingsapotheker, der Dr.
Capesius unterstellt war. Zeugenaussage in: Langbein a.a.O. S.681ff. Wobei er
Capesius schwer belastete, der Apotheker habe sich Gold aus den Goldzähnen und
Prothesen, die den Vergasten herausgebrochen worden waren, angeeignet. (S.682).
Der ehemalige Häftling Wilhelm Prokop gab noch Schlimmeres zu Protokoll:"
Capesius hat auf mich den Eindruck eines Menschen gemacht, für den ein Häftling
nur eine Nummer und ausschließlich dazu bestimmt war, ausgelöscht zu
werden." "Capesius ging auf die Koffer zu, hockte sich bei ihnen hin
und wühlte mit seinen Händen in dem stickigen Zeug. Er zog eine Prothese heraus
und hielt sie vor sich, als ob er deren Wert abschätzen würde. Ich bin
davongelaufen." (S. 681).
91 Wegen "Defaitismus" wurde der
Vorgänger des Dr. Capesius Kremer erschossen. Und viele wurden wegen
"Defaitismus" aufgeknüpft, in Plötzensee mit dem Fallbeil
hingerichtet.
92 Der Angeklagte Dr. Victor Capesius wurde vom
Schwurgericht Frankfurt am 19. August 1965 "der gemeinschaftlichen
Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je
zweitausend Menschen" für schuldig befunden und zu einer
Gesamtzuchthausstrafe von neun Jahren und zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte
für 5 Jahre verurteilt. Die Strafe hat er auch verbüßt. Dabei wurde bei der
Urteilsbegründung gesagt, er habe "heimtückisch und grausam" auch
seine rumänischen Landsleute in den Tod geschickt. Die Zahl seiner Opfer wurde
mit mindestens 8000 beziffert. "Unter diesen Getöteten befanden sich auch
diejenigen, deren Tötung der Angeklagte Capesius überwachte, indem er das
Einwerfen des Zyklon B als auch den eingetretenen Tod der Häftlinge
feststellte." Dagegen wurde er nicht verurteilt wegen der Phenolspritzen,
da diese schon 1943 eingestellt worden seien. Ein Militärgericht in Klausenburg
hatte Capesius schon nach Kriegsende zum Tode verurteilt.